Zur Wertfreiheit verpflichtet?
Gegenwärtige Berechtigung und Bedeutung des Postulats einer wertfreien Wissenschaft

Zur Wertfreiheit verpflichtet?

Gegenwärtige Berechtigung und Bedeutung des Postulats einer wertfreien Wissenschaft

Die Wert(urteils)freiheit der Wissenschaft gilt gemeinhin als notwendige Voraussetzung für die Objektivität und den besonderen Wert wissenschaftlicher Erkenntnis. Weder die Werthaltungen der Wissenschaftler:innen selbst noch die gesellschaftlichen Zwecke, für welche Wissenschaft in Anspruch genommen wird, sollen wissen­schaft­li­che Erkenntnis mitbedingen. Damit bewahrt das Postulat einer wertfreien Wissenschaft vor einer Überfrachtung der Wissenschaft mit gesellschaftlichen Erwartungen an praktische Orientierung ebenso wie vor einer Politi­sie­rung oder gar Ideologisierung ihrer Erkenntnisse. Entziehen sich Werturteile einer wissenschaftlichen Begründ­bar­keit, fallen sie allein in das Ressort dafür »zuständiger« Instanzen, sei es die Politik, die Religion oder andere Wert- und »Wertentscheidungslieferanten«. Gleichwohl ist nicht von der Hand zu weisen, dass dieses Ideal einer objektiven, wertfreien Wissenschaft in Spannung zu den gesellschaftlichen Anforderungen steht, die an die Wissenschaft und die Forschenden gleichermaßen gestellt werden: Es wird von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern erwartet, zur Lösung gesellschaftlicher Probleme beizutragen. Ein wesentlicher Sinn – insbesondere der Geistes- und Sozialwissenschaften – wurde und wird darin gesehen, praktische Orientierung zu liefern. Gleichzeitig erleben wir, dass gesellschaftspolitische Wertentscheidungen häufig wissenschaftlich angeleitet werden. Gerade die Politik ist häufig auf wissenschaftliche Expertise angewiesen, ja legitimiert ihre Entscheidungen mitunter mit wissenschaftlicher Alternativlosigkeit.
Das Spannungsfeld zwischen der Idee der Wertfreiheit und der gesellschaftlichen Realität zeigte sich zuletzt be­son­ders deutlich an der Rolle der Wissenschaft während der Corona-Pandemie. Hier haben verschiedene Wissen­schafts­zweige wie Epidemiologie, Virologie, Rechtswissenschaft und Ethik erheblichen politischen Einfluss aus­geübt. Dem Wunsch nach wissenschaftlichen Erklärungen und Empfehlungen stand die Befürchtung gegenüber, dass wissenschaftliche Erkenntnisse den politischen Diskurs ersetzen könnten. Ein weiteres aktuelles Beispiel ist der anthropogene Klimawandel, bei dem die Forderung "Follow the science!" die Frage nach der Wertfreiheit der Wissenschaft aufwirft. Hier werden grundsätzliche Fragen nach dem Verhältnis von Wert und Wahrheit, Fakt und Meinung, Sein und Sollen gestellt. Es wird debattiert, ob und inwieweit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler gesell­schafts­poli­ti­sche Zielsetzungen verfolgen sollten und welche Gefahren eine Politisierung der Wissenschaft birgt, insbesondere wenn sie gesellschaftliche Veränderungsprozesse unterstützt.
Das Forschungsprojekt „Der Wertfreiheit verpflichtet? Zur Aktualität und Bedeutung des Postulats einer wertfreien Wissenschaft“ geht diesen Fragen aus interdisziplinärer Perspektive nach. Er ist aus einer Tagung hervor­gegan­gen, die ironischerweise wegen der Pandemie online stattfinden musste, und wurde nicht durch die Pandemie oder den Klimawandel initiiert, sondern durch den 100. Todestag von Max Weber, dem Vater des Wertfreiheitspostulats. Die Beiträge sind keine reine Weber-Exegese, sondern Versuche, die Aktualität und Legitimität einer wert­urteils­frei­en Wissenschaft aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Perspektiven zu diskutieren. Dabei wird die heutige Bedeutung und Berechtigung des Wertfreiheitspostulats nicht vorausgesetzt, sondern kritisch diskutiert.

 

Forschungsergebnis: Tagung und Sammelband
Projektsprache: Deutsch
Grafik: © Dall-E

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