Subjektive Zurechnung und Alltagsattribution von Verantwortlichkeit, Strafwürdigkeit und Strafbedürftigkeit für bewusst riskantes Verhalten

Subjektive Zurechnung und Alltagsattribution von Ver­ant­wort­lichkeit, Strafwürdigkeit und Straf­be­dürf­tigkeit für bewusst riskantes Verhalten

Sowohl die rechtliche als auch die alltägliche Verantwortungszuschreibung beruhen auf einer rationalistischen, naiven Psychologie, die menschliches Handeln als ein durch epistemische und optativische Zustände verursachtes Verhalten interpretiert. Die unterschiedlichen Grade der rechtlichen wie alltäglichen Zurechnung von Verantwortung entsprechen den möglichen Kombinationen verschiedener epistemischer Zustände (wie Wissen, Voraussicht als praktisch sicher, wahrscheinlich oder nur möglich, Nichtwissen usw.) und optativer Zustände (wie Wünschen, Beabsichtigen, Inkaufnahmen, Gleichgültigkeit usw.).
Die Strafrechtslehre hat eigene Kategorien entwickelt, um anderen diese psychischen Zustände zuzuschreiben und damit ihr Verhalten zu erklären und zu beurteilen: Eine Person ist rechtlich für eine Straftat verantwortlich, wenn sie (i) ein schädigendes Ergebnis kausal herbeigeführt hat und (ii) mit einem „guilty mind" gehandelt hat. Während im Common Law dieses „guilty mind“ anhand der vier mens rea Formen (intention, knowledge, recklessness und and negligence) kategorisiert wird, kennen kontinentale Rechtsordnungen (insbesondere die von der deutschen Strafrechtsdogmatik beeinflusste) zwei Formen (Vorsatz /// Fahrlässigkeit) mit mehreren Untergliederungen (Vorsatz, Wissen, dolus eventualis /// bewusste Fahrlässigkeit, unbewusste Fahrlässigkeit).
Die Strafrechtswissenschaft begnügt sich in der Regel damit, diese Begriffsbildung und Kategorisierung rein normativ zu begründen, z.B. durch normative Begründungen für eine unterschiedliche Qualität des Unrechts oder einen unterschiedlichen Grad der Schuldfähigkeit bzw. Strafbarkeit des jeweiligen Verhaltens. Ein Vergleich mit der gewöhnlichen laienhaften Zurechnung von Schuld und Strafbarkeit wird häufig nicht für notwendig erachtet, da es der Strafrechtsdogmatik in erster Linie um eine funktionale Begriffsbildung gehen soll, die in der Lage sein muss, Tatbestand und Rechtsfolgen zu verknüpfen und letztere normativ zu begründen. Zwar ist die laienhafte Zurechnung von strafrechtlicher Verantwortung und Strafwürdigkeit kein hinreichender Grund für eine übereinstimmende dogmatische Konzeptualisierung. Ein solcher Zusammenhang trägt jedoch zur gesellschaftlichen Verankerung und damit zur Legitimation der doktrinären Konzeptualisierung bei und kann ihr eine höhere Plausibilität verleihen.
Ziel des Projekts ist es daher, die empirische Angemessenheit der deutschen strafrechtlichen Dogmatik von der subjektiven Zurechnung systematisch zu untersuchen. Es soll experimentell überprüft werden, ob die dogmatischen Kategorien der subjektiven Zurechnung im deutschen Strafrecht tatsächlich den Zurechnungen von Laien entsprechen. Die Experimente basieren auf einer Reihe von Fallvignetten, die realen Fällen nachempfunden sind, in denen der mentale Zustand des Akteurs/Täters nach den oben genannten Kategorien der deutschen Strafrechtsdogmatik verändert wird. Anhand dieser Fälle werden die Befragten aufgefordert, die Qualität und den Grad des Unrechts sowie die Schuldfähigkeit und Schuldwürdigkeit des Täters einzuschätzen und ihre Entscheidung zu begründen. Der Fokus liegt auf Fällen von bewusst riskantem Verhalten ohne direkte Schädigungsabsicht und damit - aus dogmatischer Sicht - auf dolus eventualis und bewusster Fahrlässigkeit.
Damit betritt das Projekt Neuland: Zwar gibt es zahlreiche empirische Untersuchungen zu moralischen Urteilen, die sich auf Variablen wie Verschulden, Schuld und Schuldfähigkeit berufen, doch wurden die in der strafrechtlichen Doktrin verankerten Konzeptualisierungen bisher kaum auf ihre Tauglichkeit für Laien geprüft. Das Projekt wird die Ergebnisse auswerten und konkrete Empfehlungen geben, wie die Kategorien der strafrechtlichen Doktrin modifiziert werden können, so dass sie auf alltäglichen menschlichen Zuschreibungen von Unrecht, Schuld und Strafe beruhen.

 

Forschungsergebnis: Zeitschriftenartikel
Projektsprache: Englisch
Grafik: © Dall-E

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