Recht und Ethik bei Kant

Wie ist das Verhältnis zwischen Recht und Moral? Wendet die Rechtsphilosophie lediglich allgemeine moralische Grundsätze auf bestimmte Umstände an, die die Notwendigkeit des Rechts und seiner Institutionen begründen? Oder hat das Recht eine eigene Art von Normativität, die nicht auf die Moral reduziert werden kann?
In der gegenwärtigen Forschung wird Kant häufig als Vertreter der letzteren Auffassung zitiert, der zufolge das Recht unabhängig von der Moral ist, und einige Wissenschaftler sehen in dieser behaupteten Unabhängigkeit seiner Rechtsphilosophie von seiner Moralphilosophie und ihren metaphysischen Prämissen den Schlüssel, um bei der Entwicklung zeitgenössischer Darstellungen des Rechts auf Kant aufzubauen. Aber ist eine solche Trennung der Rechtsphilosophie Kants von den zentralen Lehren, die in der Grundlegung und der Kritik der praktischen Ver­nunft entwickelt wurden, sowohl exegetisch als auch philosophisch gangbar? Ist Kants Rechtsphilosophie, wie sie im ersten Teil der Metaphysik der Sitten, der Rechtslehre, dargestellt wird, ein integraler Bestandteil seiner gesamten Moralphilosophie oder nicht?
Das Projekt “Law and Morality in Kant” wird sich diesen Fragen nach den normativen Grundlagen von Kants Rechts­philo­so­phie und ihrem Verhältnis zu Kants Moralphilosophie insgesamt widmen, indem es die wichtigsten Positionen zu diesem Thema miteinander konfrontiert, um die Stärke und das Potential der verschiedenen Inter­pre­ta­tionsansätze auszuloten und kritisch zu reflektieren. Im Anschluss an eine Tagung an der Universität Göt­tin­gen wird ein Forschungsband bei Cambridge University Press erscheinen. Die Beiträge werden sich nicht nur mit Fragen der Interpretation befassen, sondern auch mit dem systematischen Potenzial von Kants Denken für die zeitgenössische Rechts- und politische Philosophie. Dabei sollen sowohl renommierte Experten, die bereits pa­ra­digmatische Interpretationen entwickelt haben, als auch junge Wissenschaftler, die diese Ansichten in Frage stel­len und alternative Darstellungen vorschlagen, zusammengebracht werden.