Dogmatische Strukturen des öffentlichen Sicherheitsrechts

Im Rahmen dieses langfristig angelegten Projekts soll untersucht werden, ob es möglich ist, ein allgemeines Sys­tem von öffentlichen Sicherheitsmaßnahmen zu entwickeln, das mit den im materiellen Strafrecht erörterten Ver­bre­chens­syste­men vergleichbar ist, wie ein solches System konzipiert werden sollte und welchen Zwecken es im nationalen und internationalen Kontext dienen könnte. Im Unterschied zu den meisten anderen Rechtssystemen kann das deutsche Recht auf eine über hundertjährige Tradition eines eigenen Systems von Präventions­maß­nah­men im Bereich der öffentlichen Sicherheit zurückblicken.
Die Entwicklung dieser Strukturen war zentral für den Aufbau der deutschen Rechtsstaatstradition, die bis in die Zeit der Weimarer Republik dazu beitrug, die deutsche Gesellschaft trotz ausbleibender demokratischer Reformen zu modernisieren. Zu Beginn wurden fast alle öffentlichen Sicherheitsmaßnahmen anhand dieser sich entwi­ckeln­den Grundstrukturen bewertet. Das erste Polizeigesetz, das diese Herangehensweise übernahm, trat 1931 in Preu­ßen in Kraft. Es wurde im „Dritten Reich“ alsbald ideologisch überlagert und seiner rechtsstaatlichen Funktionen beraubt. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs galt es in einigen deutschen Bundesländern noch bis in die 80er Jahre. Selbst in der DDR blieb das Preußische Polizeiverwaltungsgesetz bis 1968 in Kraft.
Das Gesetz wurde inzwischen vielfach modifiziert und ergänzt; die Grundelemente bilden aber bis heute das Rück­grat der Polizeigesetze auf Bundes- und Länderebene. Diese regeln nicht nur die Befugnisse der uniformierten Polizei, sondern auch die grundsätzlichen Befugnisse der Verwaltungsbehörden im Hinblick auf die Wahrung der öffentlichen Ordnung. Im Lauf der Zeit wurden daneben immer mehr Spezialgesetze erlassen, die spezifische Ge­fah­ren in verschiedenen Rechtsbereichen, wie z. B. übertragbare Krankheiten, Versammlungen, Emissionen oder Bodenkontaminationen, ansprechen. Diese Gesetze übernahmen allerdings regelmäßig die Grundstrukturen und passten sie lediglich den Gegebenheiten der jeweiligen Materie an. Die Grundstruktur des allgemeinen Poli­zei­rechts dient daher bis heute als Grundgerüst weiter Teile des deutschen Verwaltungsrechts.
Das Projekt soll zunächst die einzelnen Elemente dieser Grund­struk­tur erfassen. Daran anschließend sollen neue Regelungen und Regelungen aus spezifischen Rechtsbereichen, die auf den ersten Blick nicht dieselbe Struktur wie die traditionellen Polizeigesetze haben, systematisiert werden. Weil viele der neueren Re­gelun­gen recht un­sys­te­ma­tisch, bisweilen geradezu verwirrend sind, kann diese Systematisierung dazu beitragen, diese neueren Regelungen transparenter zu gestalten und aus ihnen entstehende Rechtsprobleme klar zu benennen. Damit könn­te auch künftigen Gesetzgebern zu transparenteren Regelungen verholfen werden. Schließlich soll das dergestalt entwickelte System auch im Hinblick auf die internationalen Diskussionen über Befugnisse im Bereich der öffent­li­chen Sicherheit überprüft werden, um zu ermitteln, ob sich darin eventuell eine allgemeine Grund­struk­tur wider­spie­gelt, die über die deutsche Rechtssphäre hinausreicht.
Das Projekt wird von der alle zwei Jahre herausgegebenen Darstellung des deutschen Polizeirechts auf Bundes- und Landesebene begleitet, die ich mit meinem Co-Autor Thorsten Kingreen gemeinsam verantworte. Dieses von unseren akademischen Lehrern Bodo Pieroth und Bernhard Schlink, in Zusammenarbeit mit Michael Kniesel, dem ehemaligen Polizeipräsidenten Bonns und späteren Innenstaatssekretär von Bremen, begründete Werk wurde uns ab der achten von nunmehr zwölf Auflagen anvertraut. Das Buch wird von dem Bestreben getragen, sämtliche Polizeibefugnisse anhand einer gemeinsamen dogmatischen Grundstruktur darzustellen. Aufgrund der zahl­rei­chen Reformen und wachsenden Komplexität des Polizeirechts handelt es sich dabei – trotz gründlicher Über­arbei­tung und kontinuierlicher Einarbeitung der jüngsten Entwicklungen – um ein mit jeder neuen Auflage ver­bes­ser­tes, aber nicht endgültig abzuschließendes „work in progress“.
Teilprojekte beschäftigen sich mit bestimmten Bereichen des öffentlichen Sicherheitsrechts, wie etwa dem In­fek­tions­schutzgesetz und dem Versammlungsrecht. Ferner findet die in dem Projekt entwickelte allgemeine Struktur des Sicherheitsrechts Eingang in die Erstellung der Landkarten der Überwachungsbefugnisse, die für das Überwa­chungs­barometer für Deutschland entwickelt werden.

 

Publikationen (Auswahl)

Thorsten Kingreen and Ralf Poscher, Polizei- und Ordnungsrecht: mit Versammlungsrecht. (C.H. Beck, München, 2022), 12. Aufl. ed.
Thorsten Kingreen and Ralf Poscher, Polizei- und Ordnungsrecht: mit Versammlungsrecht. (C.H. Beck, München, 2020), 11. Aufl. ed.
Ralf Poscher, "Das Infektionsschutzgesetz als Gefahrenabwehrrecht", in Handbuch Infektionsschutzrecht, edited by Stefan Huster and Thorsten Kingreen (C.H. Beck, München, 2022), pp. 155-211.
Ralf Poscher, "Das Infektionsschutzgesetz als Gefahrenabwehrrecht", in Handbuch Infektionsschutzrecht, edited by Stefan Huster and Thorsten Kingreen (C.H. Beck, München, 2021), pp. 117-170.

Ralf Poscher (2022 forthcoming), Ermessen. In W. Kahl & M. Ludwigs (eds.), Handbuch des Verwaltungsrechts, vol. V: Maßstäbe und Handlungsformen, (§ 130), München: C.H. Beck.
 

Ralf Poscher and Michael Kniesel, "Versammlungsrecht", in Handbuch des Polizeirechts, edited by Matthias Bäcker, Erhard Denninger, Kurt Graulich, and Hans Lisken (C.H. Beck, München, 2021), pp. 1529-1656.

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