‚Allgemeines Lebensrisiko‘ im deutschen Sicherheitsrecht

Der Arbeit liegt die Diagnose zugrunde, dass die herkömmliche Gefahrdogmatik ergänzungsbedürftig ist. Die Be­wer­tung, ob eine Gefahr vorliegt, kann sich nicht – wie es die herkömmliche Gefahrdogmatik suggeriert – allein aus einer Be­wer­tung der Schadenswahrscheinlichkeit in Relation zur erwarteten Schadenshöhe ergeben, denn die deutsche Rechts­ord­nung nimmt in unterschiedlichen Lebensbereichen unterschiedliche Risiken in Kauf. Bei wel­cher Schadenswahrscheinlichkeit vom Vorliegen einer Gefahr ausgegangen wird, richtet sich offenbar nach wei­te­ren Kriterien. Da die Arbeit hinter dem Begriff des allgemeinen Lebensrisikos – einem in Rechtsprechung und Lite­ra­tur verwendeten Gegenbegriff zur Gefahr – die herkömmliche Gefahrdogmatik ergänzende Kriterien zur Bewer­tung der Akzeptabilität eines Risikos vermutet, analysiert und bewertet sie die hinter dem Topos des allgemeinen Lebensrisikos stehenden Argumente. Sie stellt heraus, dass der Begriff in seiner bisherigen Verwendung über­wie­gend rechtsgebietsübergreifend mit sechs Argumentationslinien verbunden wird: Allgemeine Lebensrisiken seien 1. erlaubte, 2. abstrakte bzw. latente, 3. natürliche, 4. unbeherrschbare, 5. sozialadäquate/normale/übliche Risiken und/oder 6. das Ergebnis einer Kosten-Nutzen-Abwägung. Als zentral erweist sich das Kriterium der Sozial­adä­quanz. Die Arbeit kommt zum Ergebnis, dass die rechtliche Akzeptabilität mancher Risiken mit nicht unerheb­li­chen Schadenswahrscheinlichkeiten nur anhand ihrer Sozialadäquanz erklärbar ist. Die herkömmliche Je-desto-Formel entfaltet hier nur Relevanz, als sie Ausdruck verfassungsrechtlicher Anforderungen an die einfach­recht­li­che Risikobewertung ist. Als sozialadäquat im Rechtssinne können wegen der Dichotomie zwischen Sein und Sollen jedoch nicht schlicht alle gesellschaftlich mehrheitlich ak­zep­tier­ten Risiken bezeichnet werden. Sozial­adä­quat sind vielmehr nur solche Risiken, die sowohl gesellschaftlich als auch rechtlich traditionell ak­zep­tiert werden. Geschützt wird über den Topos der Sozialadäquanz das Vertrauen der Rechtsunterworfenen, dass Risiken, von deren selbstverständlicher Zulässigkeit sie ausgehen und aufgrund der tradierten behördlichen und gerichtlichen Billigung auch ausgehen dürfen, auch zukünftig rechtlich zulässig sind. Zugleich zeigt die Arbeit die Grenzen auf, die der Inkorporation eines derart verstandenen Sozialadäquanzurteils ins Recht auferlegt sind.
Ausgehend von der These, dass die Je-desto-Formel als Herzstück der herkömmlichen Gefahrdogmatik ihre Plau­si­bi­li­tät daraus speist, dass die faktische Risikoakzeptanz der meisten Menschen unter anderem von der erwar­te­ten Schadenshöhe abhängt, geht die Arbeit in einem zweiten Schritt umgekehrt vor, indem sie nicht die Rolle fak­ti­scher Risikoakzeptanz für das Recht untersucht, sondern versucht, außerhalb des Anwendungsbereichs des Topos der Sozialadäquanz aus den Kriterien, anhand derer die faktische Risikoakzeptanz von Menschen erklärbar ist (Freiwilligkeit der Risikoübernahme, Bekanntheit des Risikos, Kosten-Nutzen-Abwägungen inklusive Fragen der Verteilungsgerechtigkeit von Risiko und Nutzen) allgemeine Kriterien für das Recht abzuleiten (Kriterien­über­tra­gung statt Ergebnisübertragung). Die in diesem Teil für sachgerecht erachteten Kriterien zur rechtlichen Risiko­bewer­tung ergänzen die herkömmliche Je-desto-Formel, ersetzen sie jedoch – anders als der Topos der Sozial­adäquanz – nicht im Rahmen des verfassungsrechtlich Möglichen.
Zuletzt kritisiert die Arbeit die in Rechtsprechung und Literatur vorhandene Praxis, anhand probabilistischer Risikovergleiche die Sozialadäquanz von (neuen) Risiken und darauf aufbauend ihre rechtliche Akzeptabilität herzuleiten.

 

Forschungsergebnis:
Dissertation an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg (2017–2023)
Projektsprache: Deutsch
Projektstatus: abgeschlossen

Weitere interessante Beiträge

Zur Redakteursansicht