Situationismus und strafrechtliche Verantwortung

Situationismus und strafrechtliche Verant­wor­tung

Psychisch gesunde, erwachsene Menschen, die rechtswidrig einen Straftatbestand verwirklichen, werden – mit seltenen Ausnahmen wie z. B. in der Notstandskonstellation des § 35 StGB oder in duress-Fällen nach § 2.09 Model Penal Code – weithin als prototypische Subjekte individueller strafrechtlicher Verantwortung angesehen; wir sagen, sie handeln schuldhaft. Diese uns selbstverständliche Wertung könnte jedoch durch die empirische Erkenntnis in Gefahr gera­ten, dass auch das Verhalten solch psychisch gesunder Erwachsener überraschend an­fäl­lig für – teilweise nur sehr geringfüge – Manipulationen des unmittelbaren Handlungsumfeldes ist. Die Wirkung von Persönlichkeitsfaktoren kann dabei nahezu gänzlich in den Hintergrund treten. Sozialpsychologische Studien zeigen eine signifikante Be­ein­flussung etwa durch das Verhalten anderer Menschen, insbesondere in Gruppen- und Hierarchie­konstella­ti­o­nen, ferner durch Temperatur, Geräuschkulisse, Gerüche, Zeitdruck oder kurzzeitige affektive Zustände („states“). Charaktereigenschaften („traits“) korrelieren dagegen allenfalls moderat mit kon­kre­ten Handlungen und eignen sich daher nur sehr bedingt zu deren Erklärung und Vorhersage. Anknüpfend an diese Erkenntnisse kritisiert der philosophische Situationismus unsere rechtlichen und moralischen Alltagsintuitionen, darunter die selbstverständliche Zuschreibung persönlicher Verantwortung ohne Rücksicht auf den machtvollen Einfluss der Handlungssituation.
Mit spezifischem Bezug auf die Strafrechtstheorie möchte das Dissertationsprojekt der Frage nachgehen, ob und ggf. unter welchen Modifikationen angesichts der situationistischen Kritik an einem Konzept individueller straf­recht­li­cher Verantwortung festgehalten werden kann. Insbesondere interessiert mich, ob bei Situationseffekten, die – wie beispielsweise der Gruppeneinfluss – erwiesenermaßen besonders stark sind, eine Exkulpation des Täters begründbar ist. Theoretischer Ausgangspunkt ist ein sowohl in der deutschen als auch in der inter­na­ti­o­na­len Debatte weit verbreitetes Verantwortungsmodell, das auf der Zuschreibung bestimmter – dispositional ver­stan­de­ner – kognitiver und volitionaler Fähigkeiten basiert, die eine an normativen Gesichtspunkten orientierte Verhaltenssteuerung ermöglichen („normative Ansprechbarkeit“ oder „normative Kompetenz“). Die situati­o­nis­ti­sche Herausforderung liefert ein lehrreiches Anwendungsbeispiel für solche dispositionalen Analysen und kann zur Aufdeckung und Behebung verbleibender Begründungsmängel beitragen.

 

Forschungsergebnis: Dissertation
Projektsprache: Deutsch
Foto: © Andrea Lightfoot/Unsplash

Weitere interessante Beiträge

Zur Redakteursansicht