Relationale Moralkonzeptionen und das Strafrecht
Das Aufkommen von zweit-personalen bzw. relationalen Konzeptionen der Moral ist eine der bedeutendsten Entwicklungen der zeitgenössischen Ethik in den letzten 25 Jahren. Obwohl viele verschiedene Theorien unter dieser Bezeichnung zusammengefasst werden, stimmen sie im Allgemeinen darin überein, dass Moral das betrifft, „was wir einander schulden“ (in Thomas Scanlons denkwürdiger Formulierung) und im Wesentlichen mit der Rechenschaftspflicht gegenüber anderen verbunden ist. Bezeichnenderweise betonen sie den Zusammenhang zwischen moralischen Pflichten und dem Verhältnis zu anderen, denen man Pflichten schuldet und die deren Erfüllung einfordern können.
Gleichzeitig ist die Frage, wie ein solches Verständnis von Moral unser Verständnis des Strafrechts und des Strafverfahrens prägen sollte, noch relativ wenig erforscht (mit wenigen Ausnahmen, z.B. in Stephen Darwalls früheren Arbeiten). Ein Grund für diese Vernachlässigung liegt vermutlich darin, dass die üblicherweise als „relational“ bezeichneten Auffassungen vom relationalen Charakter der Moral sehr unterschiedlich sind, so dass es keine klar definierte Moraltheorie gibt, für die diese Frage gestellt werden könnte.
Ein weiterer zentraler Grund für die Vernachlässigung ist auch, dass ein relationales Verständnis von Moral nicht ohne weiteres zu der Konzeption von kriminellem Fehlverhalten und strafrechtlicher Bestrafung passt, die in vielen Strafrechtstraditionen (vor allem in Kontinentaleuropa) vorausgesetzt wird. Nach der letztgenannten Auffassung betrifft strafrechtliches Fehlverhalten entweder in erster Linie die normative Beziehung zwischen dem Täter einerseits und der "objektiven Moral" oder der politischen oder moralischen Gemeinschaft insgesamt andererseits, oder es betrifft diese Beziehung zumindest ebenso sehr wie die Beziehung zwischen dem Täter und dem einzelnen Opfer. Diese Sichtweise deckt sich mit der Struktur der Strafverfahren in vielen Rechtsordnungen, wo diese in erster Linie von staatlichen Organen durchgeführt werden, die sie zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung (oder, traditioneller, im Interesse einer unpersönlich verstandenen Gerechtigkeit) durchführen. Die eigene Rolle der Opfer in diesen Verfahren ist dagegen immer noch notorisch begrenzt, auch wenn ihre Interessen (sowohl in materieller Hinsicht als auch im Hinblick auf die Genugtuung für die erlittene Schädigung) in gewissem Maße bei den Entscheidungen der beteiligten Amtsträger berücksichtigt werden müssen.
Ein relationales Verständnis von moralischen Normen stellt sowohl dieses Verständnis von kriminellem Fehlverhalten als auch von Strafverfahren in Frage, zumindest wenn man davon ausgeht, dass es bedeutende Gemeinsamkeiten zwischen moralischem und kriminellem Fehlverhalten gibt. Denn es lädt dazu ein, die Verletzung der einschlägigen Normen und Pflichten in erster Linie als ein Unrecht des Opfers zu verstehen und nicht in erster Linie als eine Auswirkung auf die Beziehung zwischen dem Täter und der politischen Gemeinschaft als Ganzes. Ob ein Strafrechtssystem, das sich dieses Verständnis zu eigen macht, die wesentlichen Merkmale heutiger Strafrechtssysteme (in funktionierenden Demokratien) beibehalten könnte, ist eine offene Frage.
Dieser Frage werden sich zum einen ein von Philipp-Alexander Hirsch eingeleitetes Debattenheft in einer renommierten deutschsprachigen strafrechtswissenschaftlichen Zeitschrift sowie zum anderen ein von Philipp-Alexander Hirsch und Erasmus Mayr herausgegebenes special issue einer renommierten englischsprachigen Zeitschrift, das Autoren aus der Moralphilosophie, der Rechtstheorie und der Strafrechtswissenschaft versammelt, widmen. Moral unser Verständnis von Strafrecht und Strafverfahren umgestalten sollte, widmen.
Forschungsergebnis: | Tagung und Debattenheft |
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Projektsprachen: | Deutsch, Englisch |
Grafik: | © Dall-E |