Ein neuer Ansatz zur Regulierung digitaler Medien

Ein neuer Ansatz zur Regulierung digitaler Medien

Das Internet und soziale Netzwerke haben einen radikalen Wandel in unserer digitalen Medienlandschaft ausge­löst. In diesem Zuge hat sich die Diskursproduktion in der Gesellschaft auf ein neues Medium verlagert und ihre Struktur und Dynamik verändert. Die wesentlichen Merkmale dieser neuen Medienlandschaft sind erstens die Verschiebung weg von einem auf „analoger Übertragung“ basierenden Kommunikationsmodell hin zu einer „Online-Partizipation“ und zweitens der Aufstieg marktbeherrschender, in Privatbesitz befindlicher digitaler Vermittlungsdienste (digital intermediaries), der sogenannten „Big Five“. Diese Vermittlungsdienste, in concreto Alphabet (ehemals Google), Meta (ehemals Facebook), Microsoft, Amazon und Apple, sind nicht nur die faktischen „Besitzer“ und Betreiber des Internets, sondern entscheiden auch zunehmend darüber, welche Inhalte letztendlich die Öffentlichkeit erreichen.
Neben dem Rückgang der traditionellen Presselandschaft und ihrer demokratisch unverzichtbaren „Überwa­chungs­funk­tion“ („watchdog“ function) hat diese Macht-Neuverteilung unter den digitalen Medienvertretern neue Herausforderungen bezüglich der Internetregulierung geschaffen und tiefgreifende Spannungen mit bestehenden Rechtsgrundsätzen und -ansätzen ausgelöst. Das Internet ist nicht nur zunehmend anfällig für problematische Online-Inhalte – darunter Hate Speech, Belästigung unter Nutzung von Bildern, Rassismus, Extremismus, Des­infor­ma­tion sowie Fake News – sondern auch immer häufiger Schauplatz weniger auffälliger struktureller Be­dro­hungen für die Demokratie, wie beispielsweise globaler Überwachung auf einem nie dagewesenen Niveau, Zensur und Kontrolle. Wenn Regulierungsbehörden diesen strukturellen Bedrohungen keine Priorität einräumen, laufen sie Gefahr, nur die Symptome unseres zunehmend dysfunktionalen öffentlichen Raums, anstatt deren zugrunde liegender Ursache in Form von weiterreichenden Spannungsverhältnissen, Mustern und Zusammenhängen, zu behandeln.
Herkömmliche Regulierungsansätze haben sich als weitgehend erfolglos erwiesen. Weder die selbst auferlegten Nutzungsbedingungen der Social-Media-Plattformen noch nationale, internationale oder supranationale Gesetze sind bislang in der Lage, mit den rapiden technologischen Veränderungen und der Verbreitung bedenklicher Online-Inhalte im Netz Schritt zu halten. Darüber hinaus und unabhängig davon, welcher der beiden führenden Regulierungsansätze betrachtet wird – das  vorherrschende „Notice-and-Action“-Modell der Europäischen Union oder das von den USA favorisierte, gegenläufige Modell der „Selbstregulierung des Marktes“ – konzentrieren sich herkömmliche Online-Regulierungen fast ausschließlich auf die Einschränkung „problematischer“ Online-Inhalte (wie Hate Speech und Fehlinformationen) und lassen die immer weiter an Fahrt aufnehmenden und beunru­hi­gen­deren Phänomene der Massenüberwachung und der privatisierten staatlichen Zensur unberücksichtigt. Dieser besorgniserregende Regulierungstrend bei der Inhaltsmoderation im Internet begann 2017 mit dem deutschen Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG) und hält bis heute mit dem europäischen Digital Services Act (DSA), dem britischen Online Safety Act sowie dem zuletzt von Kanada vorgelegten Online Harms Act zur Bekämpfung von Hate Speech an. Unabhängig davon, ob dieser Regulierungsansatz als risiko- oder systembasiert eingestuft wird, birgt er die Gefahr in sich, dass Regierungsbehörden mit den für die Regulierung erforderlichen gesetzlichen Man­da­ten, der Informationstransparenz und den Befugnissen zur Durchsetzung der Vorschriften ausgestattet werden – ein Szenario, das eines der „Big Picture“-Dilemmata der „Verwaltung“ des Internets darstellt.
Insgesamt stellen die genannten Entwicklungen eine erhebliche Bedrohung für die Grundfreiheiten dar, insbe­son­dere für das Recht auf freie Meinungsäußerung und die Pressefreiheit, und zwingen soziale Medienplattformen in die Rolle mächtiger Gatekeeper an der Schwelle der Menschenrechte.
Ein neuer Ansatz bei der Regulierung digitaler Medien bleibt eine der größten ungelösten Herausforderungen des 21. Jahrhunderts.

 

Forschungsergebnisse: begutachtete Zeitschriftenartikel (2023–2026)
Projektsprache: Englisch
Foto: © Lightspring/Shutterstock.com

 

Publikationen

Bovermann, M. A. (2024, Januar 8). Putting X’s Community Notes to the Test. doi:10.59704/9449c0ca83d334d3
Stephenson, R., & Rinceanu, J. (2024). Differential Diagnosis in Online Regulation: Reframing Canada’s “Systems-Based” Approach. Eucrim – European Law Forum: Prevention • Investigation • Prosecution. doi:10.30709/eucrim-2024-007
Stephenson, R., & Rinceanu, J. (2023). Digital Iatrogenesis: Towards an Integrative Model of Internet Regulation. Eucrim – European Law Forum: Prevention • Investigation • Prosecution. doi:10.30709/eucrim-2023-007
Rinceanu, J., & Stephenson, R. (2022). Diagnosing Digital Disease. MaxPlanckResearch, 2022(3), 14–19.
Rinceanu, J., & Stephenson, R. (2022). Eine Diagnose digitaler Krankheiten. MaxPlanckForschung, 2022(3), 14–19.

Quelle: Journal MaxPlanckForschung, 2022(3).

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