Interessensverschiebungen im europäischen Auslieferungs­recht

Interessensverschiebungen im europäischen Ausliefe­rungs­recht

Die Möglichkeiten, einen nach der Tat ins Ausland Geflüchteten festzunehmen, unterliegen territorialen und recht­lichen Grenzen. Sie spiegeln bestimmte In­ter­es­senlagen wider. Ziel des Projekts ist die Überprüfung einer Hypo­the­se über den Wandel dieser Interessen im euro­pä­ischen Auslieferungsrecht. Die Methodik der Arbeit basiert auf einer Analyse der Historie sowie des geltenden Auslieferungsrechts des Europarates und der EU in Form des Euro­pä­i­schen Haftbefehls.
Die Er­grei­fung des Ver­däch­ti­gen, der nach der Tat in einen an­de­ren Staat flüch­tet, stand seit je­her im Fo­kus kon­tro­ver­ser recht­li­cher Be­trach­tung. Das re­le­van­te Aus­lie­fe­rungs­recht zeigt so­wohl die ter­ri­to­ria­len Gren­zen des Straf­rechts als auch die Auf­lö­sung des Span­nungs­ver­hält­nis­ses zwi­schen der Ge­währ­leis­tung von Si­cher­heit durch ef­fek­ti­ve grenz­über­schrei­ten­de Kri­mi­na­li­täts­be­kämp­fung und der Auf­recht­er­hal­tung von Frei­heits­rech­ten. Die Straf­ver­fol­gungs­be­hör­den des Ta­tort­staa­tes sind auf die Un­ter­stüt­zung ih­rer aus­län­di­schen Pen­dants an­ge­wie­sen, da das Völ­ker­recht die Aus­übung ei­ge­ner Ho­heits­ge­walt auf frem­dem Staats­ge­biet ver­bie­tet. Auf der an­de­ren Sei­te un­ter­liegt ei­ne Aus­lie­fe­rung recht­li­chen Vor­aus­set­zun­gen und Be­din­gun­gen, die wi­der­strei­ten­de In­ter­es­sen spie­geln. Die­se ha­ben sich im Ver­lauf der eu­ro­päi­schen Recht­s­ent­wick­lung ge­wan­delt.
Ei­ne Be­trach­tung pri­ma vis­ta führt zu fol­gen­der Hy­po­the­se: Zu Be­ginn stan­den sich gleich­wer­tig – und al­lein zwei­di­men­sio­nal – das In­ter­es­se des er­su­chen­den Staa­tes an ef­fek­ti­ver Durch­füh­rung der Aus­lie­fe­rung so­wie das In­ter­es­se des er­such­ten Staa­tes an Sou­ve­rä­ni­täts­wah­rung ge­gen­über; der Ver­folg­te war nur ein Ob­jekt oh­ne Rech­te. Im noch gel­ten­den so­ge­nann­ten tra­di­tio­nel­len Recht des Eu­ro­pa­ra­tes trat auf­grund der Ent­wick­lung der Men­schen­rech­te nach dem Zwei­ten Welt­krieg als drit­te Di­men­si­on das In­di­vi­du­al­schut­z­in­ter­es­se hin­zu, das den vor­ge­nann­ten bei­den staat­li­chen In­ter­es­sen zu­min­dest gleich­wer­tig ist. Im neu­en Recht der EU (ge­re­gelt durch den Eu­ro­päi­schen Haft­be­fehl) ist da­ge­gen das Ef­fek­ti­vi­täts­in­ter­es­se klar be­stim­mend, das Sou­ve­rä­ni­täts­in­ter­es­se ver­schwin­det ganz, das In­di­vi­du­al­schut­z­in­ter­es­se tritt zu­rück. Denn die­ses Recht ba­siert auf dem Grund­satz der ge­gen­sei­ti­gen An­er­ken­nung. Durch den Ab­bau recht­li­cher Be­schrän­kun­gen soll die Ver­kehrs­fä­hig­keit von Fahn­dungs­er­su­chen si­cher­ge­stellt wer­den. In­di­vi­du­al­schutz­rech­te, so die Kri­tik, un­ter­lie­gen durch das Kon­zept ei­ner Ero­si­on.
Ziel der Ar­beit ist die Über­prü­fung der Rich­tig­keit die­ser Hy­po­the­se. Dies ge­schieht so­wohl durch ei­ne Ana­ly­se der His­to­rie des eu­ro­päi­schen Aus­lie­fe­rungs­rechts als auch der ak­tu­el­len Aus­ge­stal­tung der Aus­lie­fe­rung in den Mo­del­len des Eu­ro­pa­rats und der EU. In me­tho­di­scher Hin­sicht führt die Ar­beit nicht nur ei­ne Nor­m­ana­ly­se des „law in books“ in Form der klas­si­schen Aus­le­gungs­me­tho­den und der Aus­wer­tung der Li­te­ra­tur durch, son­dern zieht auch die Hand­ha­bung der Ko­ope­ra­ti­ons­vor­aus­set­zun­gen in der Pra­xis her­an („law in ac­ti­on“). Hier­für wer­den deut­sche und aus­län­di­sche Recht­spre­chung zu den ein­zel­nen Ko­ope­ra­ti­ons­vor­aus­set­zun­gen so­wie em­pi­risch-pro­blem­ori­en­tier­te Stu­di­en in Form ei­ner Se­kun­där­ana­ly­se aus­ge­wer­tet.
Vor­läu­fi­ge For­schungs­er­geb­nis­se zei­gen, dass schon bei his­to­ri­scher Be­trach­tung die vor­ge­nann­te Hy­po­the­se teil­wei­se un­rich­tig ist. Die „Ob­jekt­theo­rie“, die dem Be­schul­dig­ten ei­ne ei­ge­ne Rechts­po­si­ti­on im Aus­lie­fe­rungs­ver­fah­ren ver­sag­te, kann nur für be­stimm­te Staa­ten ge­teilt wer­den (z. B. Frank­reich, ehe­ma­li­ge deut­sche Ein­zel­staa­ten). An­de­re Län­der (z. B. Eng­land, Bel­gi­en) schüt­zen In­di­vi­dual­in­ter­es­sen durch das Ver­fah­ren. Bei Be­trach­tung der gel­ten­den Rechts­la­ge herrscht in vie­len Punk­ten – zu­min­dest im prak­ti­schen Er­geb­nis – ein Gleich­lauf. Auf­zei­gen lässt sich dies z. B. an der Vor­aus­set­zung der bei­der­sei­ti­gen Straf­bar­keit und ei­ner et­wai­gen Hin­de­rung der Aus­lie­fe­rung durch Ver­let­zung von Grund­rech­ten durch den er­su­chen­den Staat („ord­re pu­blic“). Da­ge­gen sind auch im Rah­men des Eu­ro­päi­schen Haft­be­fehls sou­ve­rä­ni­täts­wah­ren­de Re­si­du­en fest­stell­bar. Ge­fah­ren für den In­di­vi­du­al­schutz durch die­ses Re­gime ent­stan­den in­ter­essan­ter­wei­se durch Ver­än­de­run­gen for­ma­ler Art: Die Kür­ze von Sach­ver­halts­dar­stel­lun­gen be­rührt das Recht auf aus­rei­chen­de In­for­ma­ti­on. Die Ver­pflich­tung, ei­ne Aus­lie­fe­rung in­ner­halb ei­ner be­stimm­ten Frist zu er­le­di­gen, führt da­zu, dass die Ver­tei­di­gung Aus­lie­fe­rungs­hin­der­nis­se nicht mehr sub­stan­ti­iert gel­tend ma­chen kann.

 

Forschungsergebnis: Dissertation an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg (2016–2020)
Projektsprache:Deutsch
Foto:© Corgarashu Alamy/Stock Photo

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