Wie lässt sich die Überwachung der Bürgerinnen und Bürger messen?

Gastbeitrag von Ralf Poscher und Michael Kilchling in der Deutschen Richterzeitung

28. März 2022

In der rechtspolitischen Debatte wird seit langem über eine gesamtheitliche Erfassung und verfassungsrechtliche Bewertung der Überwachungsbefugnisse der Sicherheitsbehörden diskutiert. Mit dem periodischen Überwa­chungs­barometer wird erstmals ein evidenzbasiertes Instrument geschaffen, mit dem die – reale – Über­wa­chungs­last gemessen und die damit verbundene Freiheitsbelastung der Bürgerinnen und Bürger sichtbar gemacht werden kann.

Die neue Bundesregierung hat sich eine „vorausschauende, evi­denz­basierte und grundrechtsorientierte Sicherheits- und Kriminalpolitik“ zum Ziel gesetzt. In dem Koalitionsvertrag ist unter anderem vor­gese­hen, die Sicherheitsgesetze im Hin­blick auf ihre tatsächlichen und rechtlichen Auswirkungen auf Freiheit und Demokratie zu evaluieren. Eine einmalige Be­standsaufnahme des aktuellen Status Quo erscheint als Basis für eine transparente und nachhaltige Rechtspolitik in dem intendierten Sinne freilich nicht hinreichend. Essenzielle Voraussetzung für die Realisierung eines solchen Vorha­bens ist vielmehr ein kontinuier­li­ches, theoretisch und empirisch unterlegtes Monitoring der Entwicklung, das neben den rechtlichen auch die rechts­tatsächlichen und technischen Veränderungen einbezieht.

Die Abteilung Öffentliches Recht des Freiburger Max-Planck-Instituts zur Erforschung von Kriminalität, Sicherheit und Recht (MPI-CSL) arbeitet bereits seit einiger Zeit an einem – theoretisch und empirisch unterlegten – Konzept für den Aufbau eines periodischen Überwachungsbarometers, das die wichtigsten Befugnisse der Sicherheitsbehörden zur Überwachung der Bürgerinnen und Bürgerinnen sowie den Zugriff auf die bei einer Vielzahl von privaten und öffentlichen Stellen vorhandenen Datenbestände messen kann. Anknüpfend an die verfassungsrechtliche Diskussion über die Mög­lich­keiten und den Nutzen einer sog. „Überwachungs-Gesamtrechnung“ (ÜGR) soll die Überwachungslast in Deutsch­land möglichst realitätsnah erfasst und nach einem einheitlichen Kategorienmodell bewertet werden.

Der ursprünglich von Alexander Roßnagel geprägte Topos der ÜGR baut auf dem wegweisenden Urteil des Bundes­ver­fas­sungs­gerichts aus dem Jahr 2010 zur Vorratsdatenspeicherung auf, das dem Gesetzgeber Zurückhaltung bei der Erwägung neuer Speicherpflichten und Befugnisse zum behördlichen Zugriff auf bereits gespeicherte personenbezo­ge­ne Daten aufgegeben hat. Das Gericht stellt immer wieder heraus, dass eine übermäßige Überwachung mit der frei­heit­lichen Verfassungsidentität der Bundesrepublik Deutschland unvereinbar wäre. Dieses Prinzip ist generell zu beachten, auch jenseits des Bereichs der Vorratsdatenspeicherung.

Mit dem etwas sperrigen Begriff der ÜGR wird auf die Notwendigkeit einer – auch empirisch unterlegten – Gesamt­be­trach­tung des (jeweils aktuellen) Standes staatlicher Überwachung verwiesen, die alle einschlägigen präventiven und repressiven Überwachungsmaßnahmen quasi aufaddiert. Bislang ist die ÜGR in der Rechtswissenschaft vor allem auf der abstrakt-theoretischen Ebene diskutiert und nur in rudimentären Ansätzen operationalisiert worden. Beiträge aus der Literatur halten sich meist im Vagen und begnügen sich weitgehend mit Vorschlägen, wie man die Gesamtheit der recht­lichen Befugnisse zur Überwachung abstrakt bewerten könnte. Der Koalitionsvertrag nimmt ebenfalls auf die ÜGR Bezug.

Belastbare Informationen zur Häufigkeit der durchgeführten Überwachungsmaßnahmen sowie zu deren Eingriffs­inten­si­tät sind bislang allerdings nur sporadisch verfügbar. Das ist eine entscheidende Lücke, die sukzessive geschlossen wer­den muss. Die Kernfrage nach dem verfassungsrechtlich vertretbaren Maß staatlicher Überwachung ist stets auch eine quantitative. Denn mit der Häufigkeit solcher Maßnahmen steigt zugleich die statistische Wahrscheinlichkeit und damit das individuelle Risiko der eigenen Betroffenheit. Das vom MPI-CSL entwickelte Modell schafft es erstmals, die verschie­de­nen rechtlichen Zugriffsmöglichkeiten (verfassungsrechtliche Perspektive) mit der realen Zugriffspraxis (empirische Perspektive) zu kombinieren und auf dieser Basis das tatsächliche Überwachungsgeschehen zu messen und damit die Überwachungslast sichtbar zu machen. Dabei geht es uns nicht um eine abstrakte Grenzziehung zwischen einem ver­fas­sungs­rechtlich (noch) zulässigen Quantum einzelner Überwachungsmaßnahmen und einer unzulässigen Totalüber­wa­chung. Ziel ist vielmehr, den realen Umfang und einzelne Schwerpunkte der Überwachung durch die verschiedenen präventiven und repressiven Maßnahmen aufzuzeigen.

Zur Erstellung eines realistischen Abbildes der Überwachungssituation und ihrer verfassungsrechtlichen Einordnung reicht es jedoch nicht, Zugriffsnormen und Anwendungszahlen rein quantitativ zu erfassen. Staatliche Überwachungs­maßnah­men und Zugriffe auf datenförmig hinterlegte Informationen müssen jeweils spezifiziert und im Hinblick auf ihre Zielsetzung und ihre Eingriffswirkung gewichtet werden. Beispielsweise dürfte ein nach abstrakter Bewertung eingriffs­inten­si­ver präventiver Echtzeit-Zugriff auf mobile Standortdaten einer in einem weitläufigen Waldgebiet vermissten Person oder ihrer Begleitung zur Abwendung einer konkreten Gefahr für Leib oder Leben anders zu bewerten sein als die repressive Abfrage von Kontodaten zur Aufklärung einer mutmaßlichen Geldwäsche-, Steuer- oder Vermögensstraftat; beide könnten ihrerseits schwerer wiegen als etwa die massenhafte, potenziell Hunderttausende betreffende Verkehrs­über­wa­chung mittels nummernbasierter Abschnittskontrolle. Als entscheidende Parameter müssen daher sowohl die verfassungsrechtliche als auch die empirische Eingriffsintensität berücksichtigt und zueinander ins Verhältnis gesetzt werden. Damit schafft das Überwachungsbarometer einen evidenzbasierten Unterbau für die rechtspolitische Debatte um bestehende Überwachungsbefugnisse (und mögliche Änderungen oder Erweiterungen) ebenso wie für die Bewer­tung der Situation durch die Rechtsprechung. Obwohl die Zunahme staatlicher Überwachungen ein globales Thema ist, ist ein solches Transparenzinstrument bislang weder für Deutschland noch für ein anderes Land in Europa oder der Welt entwickelt worden.

Die Idee, gesellschaftliche Phänomene zu indexieren, ist nicht neu. Es existiert eine Reihe von wissenschaftlich betreu­ten Barometern, die in verschiedenen Lebensbereichen zum Einsatz kommen: in den Wirtschafts- und Finanz­wissen­schaf­ten z. B. der Verbraucherpreisindex oder der sog. Gini-Index zur Erfassung der weltweiten Einkommens- und Vermögensverteilung; im (gesellschafts-)politischen Bereich u.a. der Human Development Index der Vereinten Nationen (HDI) oder der Korruptionswahrnehmungsindex von Transparency International. Ziel solcher Bewertungsmodelle ist stets, komplexe Phänomene greifbar zu machen und ihre Entwicklung im Längs- und Querschnitt zu verfolgen. Daran orientiert sich auch das künftige Überwachungsbarometer.

Das Überwachungsbarometer basiert auf einem sechsstufigen Konzept. Im ersten Schritt werden zunächst die zu mes­sen­den relevanten Überwachungsszenarien festgelegt. In der Endausbaustufe sollen hier – vorbehaltlich der Zugäng­lich­keit statistischer Daten – grundsätzlich sämtliche staatlichen Zugriffe auf alle Arten von (Massen-)Daten erfasst werden, unabhängig von der konkreten Zielsetzung (Gefahrenabwehr, Strafverfolgung, Vorfeldaufklärung, nachrich­ten­dienst­li­che Beobachtung etc.). Zu berücksichtigen ist die originäre behördliche Erhebung solcher Daten ebenso wie der staatliche Zugriff auf bereits vorhandene private oder behördliche Daten oder Datensammlungen. Für die Pilotphase wurde zunächst eine begrenzte Anzahl übergeordneter Kategorien besonders grundrechtssensibler Datenarten identifiziert, auf die in einer Vielzahl spezifischer Sachverhalte zugegriffen werden kann. Im zweiten Schritt werden sämtliche Zugriffspfade zu diesen Daten einer detaillierten rechtlichen Analyse unterzogen. Je nachdem welche Behörde mit welchem Ziel auf diese Daten zugreifen möchte, sind unterschiedliche Rechtsgrundlagen maßgeblich, die die Voraussetzungen für den Zugriff, seine Durchführung sowie die Verwendung der erhobenen Daten jeweils eigen­stän­dig (und unterschiedlich) regeln. Als Ertrag dieser beiden ersten Arbeitsschritte ergibt sich ein kartographischer Überblick über die „Überwachungslandschaft“ in Deutschland. Diese kann, was die behördlichen Spielräume für die Anordnung und Durchführung von Überwachungsmaßnahmen betrifft, regional deutlich variieren; mitunter können bestimmte Maßnahmen in einzelnen Behördenzweigen oder einzelnen Bundesländern auch gar nicht anwendbar sein.

Die Unterschiede in der Überwachungspraxis werden in den nächsten beiden Schritten ermittelt. Im dritten Schritt wer­den alle verfügbaren statistischen Kennzahlen zur Häufigkeit der verschiedenen Überwachungsmaßnahmen erhoben. Einige Daten, insbesondere solche zur Anwendung der wichtigsten strafprozessualen Instrumente, werden bereits seit einiger Zeit publiziert; im Laufe des Jahres 2022 werden aufgrund neuer Transparenzklauseln in nahezu allen Polizei­gesetzen erstmals statistische Daten aus diesem Bereich vorliegen. Andere Daten müssten dezentral bei den jeweils zuständigen Behörden abgefragt werden. Zu Beginn werden nicht zu allen relevanten Zugriffen Informationen verfügbar sein. Mit dem Ausbau des Barometers wird sich die Datenlage jedoch kontinuierlich verbessern; dabei wird auch die zunehmende verfassungsgerichtliche und gesetzgeberische Verpflichtung der Behörden zu Dokumentation und Transparenz hilfreich sein. Die Sammlung aggregierter statistischer Zahlenreihen erlaubt allerdings noch keine hinreichende Aussage über die tatsächliche Überwachungslast. Zu deren endgültiger Bestimmung muss auch die Eingriffsschwere bestimmt werden. Hierfür werden im vierten Schritt die verschiedenen Überwachungsmaßnahmen nach einheitlichen verfassungsrechtlichen Kriterien typisiert und gewichtet. Dies erfolgt auf der Basis eines komplexen Kategoriensystems, das alle abstrakt bestimmbaren „Schwere“-Kriterien berücksichtigt und nach deren verfassungs­recht­li­cher Bedeutung jeweils unterschiedlich quantifiziert. Im Ergebnis könnte die gleiche Maßnahme, z. B. die Telekommunikationsüberwachung, in Bundesland A eine andere Eingriffsintensität haben als in Bundesland B oder C; dasselbe gilt, wenn solche Maßnahmen einerseits auf der Grundlage der StPO und andererseits im präventiven Kontext auf der Grundlage beispielsweise des BKAG zur Anwendung kommen.

Beide Parameter – Häufigkeit und Schwere der Maßnahmen – sind das finale Kernstück des Überwachungsbarometers; sie bilden die verfassungsrechtliche und die empirische Eingriffsintensität ab und werden im fünften Schritt ins Verhält­nis gesetzt. Hierfür wurden zunächst zwei exemplarische Indexformeln entwickelt, mit denen die beiden Parameter rechnerisch unterschiedlich gewichtet werden; die eine Formel ist nach oben offen konstruiert und orientiert sich stärker an der Häufigkeit, die andere ist stärker indexiert und fokussiert eher die Intensität der Zugriffe. Alle Indexwerte werden im sechsten und letzten Schritt gesammelt, einheitlich in (Teil-)Barometern dargestellt und in einem Gesamt­überwa­chungs­baro­me­ter aggregiert. Auf diese Weise wird ein detaillierter, periodisch aktualisierter Überblick generiert, der auch für jeden Zugriffssachverhalt einen individuellen Indexwert ausweist. So können sämtliche Überwachungsvarianten nach Zugriffsart, Zugriffszweck, überwachender Behörde, Bundesland u.v.a.m. in Relation zueinander gesetzt werden. Diese Darstellung in Form von Einzelindizes lässt nicht nur die – kumulierte – Gesamtüberwachungslast erkennen, sondern auch ihre Zusammensetzung.

Die einzelnen Überwachungsindizes werden ergänzt durch weitere statistische Auswertungen der verfügbaren aggre­gier­ten Daten. Aktuell werden verschiedene Darstellungsarten getestet, die das Überwachungsgeschehen erkennbar und die daraus resultierende Überwachungslast greifbar machen sollen. So kann die Zahl der jeweiligen Maßnahmen zusammen mit den entsprechenden Zu- und Abnahmeraten über einen längeren Zeitraum dargestellt oder in Form der durchschnittlichen Anzahl von Zugriffen pro Tag oder als Inzidenzwert bezogen auf 100.000 Einwohner angezeigt werden.

Das neue Überwachungsbarometer versteht sich als ein rechts- und gesellschaftspolitisches Transparenzprojekt. Sein Mehrwert beschränkt sich daher nicht auf das Endprodukt der Überwachungsindizes. Auf jeder der sechs beschrie­be­nen Arbeitsstufen werden (Teil-)Ergebnisse generiert, die jeweils einen eigenen wissenschaftlichen und rechts­poli­ti­schen Aussagewert haben und das Spektrum der Informationen über das Überwachungsgeschehen in Deutschland zusätzlich bereichern können. Es obliegt dann der Öffentlichkeit und den verantwortlichen Akteuren in Wissenschaft, Politik und Justiz, auf der Grundlage der kontinuierlich fortschreibbaren Barometerdaten die Situation im Bereich der Überwachung zu bewerten. Das mögliche Potenzial wird am Beispiel der sog. Gefangenenziffer deutlich: Würde die Anzahl der Inhaftierten pro 100.000 der Bevölkerung deutschlandweit eines Tages den symbolischen Wert 100 über­schrei­ten, kämen Politik und Praxis vermutlich unter beachtlichen Handlungsdruck, um mit administrativen, gegebe­nen­falls auch gesetzgeberischen Maßnahmen eine möglichst nachhaltige Senkung herbeizuführen. Eine ähnliche Wirkung könnte, jedenfalls mittelfristig, auch von den Zahlen des Überwachungsbarometers ausgehen, sollte die gemessene Überwachungslast insgesamt oder in bestimmten, besonders grundrechtssensiblen Bereichen signifikant zunehmen.

Auf der Basis des entwickelten Prototyps wird im Laufe des Jahres 2022 eine erste Ausgabe des Überwachungs­barome­ters vorbereitet, das zunächst noch fragmentarischen Charakter haben wird. Für die Öffentlichkeit wird eine permanente Website – www.ueberwachungsbarometer.de – eingerichtet, die im Laufe des Jahres 2022 freigeschaltet werden wird. Das Projekt wird in den ersten Pilotphasen von der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit finanziell gefördert.

Auszüge aus dem Koalitionsvertrag:

»Wir sorgen für eine vorausschauende, evidenzbasierte und grundrechtsorientierte Sicherheits- und Kriminalpolitik. […] Die Eingriffe des Staates in die bürgerlichen Freiheitsrechte müssen stets gut begründet und in ihrer Gesamtwirkung betrachtet werden. Die Sicherheitsgesetze wollen wir auf ihre tatsächlichen und rechtlichen Auswirkungen sowie auf ihre Effektivität hin evaluieren. Deshalb erstellen wir eine Überwachungsgesamtrechnung und bis spätestens Ende 2023 eine unabhängige wissenschaftliche Evaluation der Sicherheitsgesetze und ihrer Auswirkungen auf Freiheit und Demo­kra­tie im Lichte technischer Entwicklungen. Jede zukünftige Gesetzgebung muss diesen Grundsätzen genügen. […]«
[Mehr Fortschritt wagen. Koalitionsvertrag zwischen SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP, S. 108 f.]


  • Der Artikel ist ursprünglich als Gastbeitrag in der März-Ausgabe der Deutschen Richterzeitung (DRiZ) erschienen.  

 

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