Werden Vergewaltigungen und andere Sexualdelikte zu milde bestraft?

Gastbeitrag von Tatjana Hörnle im Spiegel

22. Januar 2024

Unter Juristinnen und Juristen ist in den vergangenen Wochen eine scharfe Diskussion um die angemessene Bestrafung von Sexualstraftaten entbrannt. Die Debatte angestoßen hatten zwei Rechtswissenschaftlerinnen, die ein Umdenken in der Justiz und konsequentere Strafen für Sexualdelikte forderten. Für Tatjana Hörnle, Direktorin am Max-Planck-Institut zur Erfor­schung von Kriminalität, Sicherheit und Recht, ist die Zurückhaltung deutscher Gerichte bei der Strafzumessung grundsätzlich eine Errungenschaft, wie sie in einem Spiegel-Gastbeitrag erläutert.

Die Gerichte müssten ihre Strafen insbesondere bei Sexualdelikten grundlegend überdenken, forderten die Rechtswissenschaftlerinnen Elisa Hoven und Frauke Rostalski. Die derzeitige Straf­zu­messungs­praxis sei in einer Zeit entstanden, in der sexuelle Übergriffe viel zu häufig bagatellisiert wurden, schrieben die beiden Juristinnen in einem Beitrag, der Ende vergangenen Jahres in der Frankfurter All­ge­mei­nen Zeitung (FAZ) erschien. Die beiden Autorinnen untersuchten 86 amts- und landgerichtliche Urteile wegen Sexualstraftaten aus fünf Jahren. Alle verhängten Strafen hätten sich im unteren Drittel des gesetzlichen Strafrahmens befunden, schrieben die Autorinnen in der FAZ.

Dem Beitrag von Elisa Hoven und Frauke Rostalski folgte ein kri­ti­scher Artikel des ehemaligen Bundesrichters Thomas Fischer im Legal Tribune Online (LTO). In diesem Artikel zog Thomas Fischer die fachliche Eignung der beiden Autorinnen und die wissenschaftliche Fundiertheit ihrer Studien in Zweifel.

Die zurückhaltende Strafpraxis in Deutschland ist eine Errungenschaft

In ihrem nun erschienenen Gastbeitrag im Nachrichtenmagazin Der Spiegel setzt sich Tatjana Hörnle, selbst Strafrechts­wissen­schaft­lerin mit großer wissenschaftlicher Bibliografie zum Thema Sexualstrafrecht, mit der Diskussion aus­einan­der. Sie erläutert, dass die Zahlen von Elisa Hoven und Frauke Rostalski es auf den ersten Blick so aussehen lassen, dass es eine milde Strafpraxis bei Vergewaltigung gibt. Kritisch zu sehen sei vor allem die großzügige Annahme eines minder schweren Falls durch deutsche Gerichte, etwa wenn die Opfer mit dem Täter verheiratet waren. Es sei allerdings wichtig, die Strafzumessung auch bei anderen Verbrechen nicht auszublenden: Deutsche Gerichte setzten nicht nur bei Sexualdelikten niedrigere Strafen an, als der Blick ins Gesetz nahelegt, sondern z. B. auch bei schwerem Raub.

Weiter führt Tatjana Hörnle aus, dass – wenn man für Sexualdelikte generell höhere Strafen befürworte – man konse­quen­ter­weise auch andere Delikte strenger bestrafen müsste. Die Folge wäre, dass mehr Menschen in Haft säßen – mit all den menschlichen, sozialen und fiskalischen Konsequenzen, wie man sie etwa aus den USA kennt.

„Die zurückhaltende Strafpraxis in Deutschland ist eine Errungenschaft“, lautet daher auch das Fazit von Tatjana Hörnle. Es gelte problematische Unrechtsbewertungen im Einzelfall zu vermeiden; generell und systematisch härtere Strafen für ganze Deliktsgruppen anzustreben, sei dagegen nicht sinnvoll.

Neben der Auseinandersetzung mit den Studien ihrer Kolleginnen wendet sich Tatjana Hörnle gegen den – in seinem Stil sehr polemischen – LTO-Beitrag von Thomas Fischer.

 

Quellen

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