Wie steht es um Deutschlands Sicherheitsgesetze?
Institut veröffentlicht „Überwachungsgesamtrechnung“
Die Ergebnisse der ersten sogenannten „Überwachungsgesamtrechnung“ sind da. Ziel des Projekts war es, die Überwachungsbefugnisse und -maßnahmen der Sicherheits- und Strafverfolgungsbehörden in Deutschland zu erfassen und zu bewerten. Die von der ehemaligen Ampel-Regierung in Auftrag gegebene Studie bietet einen umfassenden Überblick über die Überwachungslandschaft in Deutschland und bereichert die rechtspolitische Debatte damit um eine wichtige evidenzbasierte Grundlage. Die Ergebnisse zeigen: Die Überwachungsbefugnisse hierzulande sind vielfältig und sehr komplex geregelt. Die meisten von ihnen bewegen sich in einem breiten mittleren Schwerebereich. Aber: Die meisten Behörden sind bislang nicht in der Lage, belastbare statistische Daten über die Anzahl der von ihnen durchgeführten Überwachungsmaßnahmen zu liefern.

Auf den Punkt gebracht
- Das Max-Planck-Institut hat die sogenannte Überwachungsgesamtrechnung veröffentlicht, ein Instrument, um die Überwachungsbefugnisse und -maßnahmen der Sicherheits- und Strafverfolgungsbehörden in Deutschland zu erfassen und zu bewerten.
- Erstmals wurden mehr als 3.200 gesetzliche Überwachungsbefugnisse evaluiert.
- Die Studie ergab: Die Gesamtheit der sicherheitsrechtlichen Befugnisnormen ist sehr komplex. Die Eingriffsintensität der meisten Befugnisse liegt im mittleren Schwerebereich.
- Das Instrumentarium soll helfen, die Transparenz und die demokratische Diskussion über staatliche Überwachungsmaßnahmen zu fördern.
- Hierfür ist eine grundlegende Verbesserung der behördlichen Erfassungspraxis unabdingbar.
Nach rund einjähriger Bearbeitungszeit hat das Max-Planck-Institut zur Erforschung von Kriminalität, Sicherheit und Recht die wissenschaftliche Untersuchung der Sicherheitsgesetze in Deutschland – die sogenannte „Überwachungsgesamtrechnung“ – fertiggestellt. Das Freiburger Institut hatte Anfang 2024 den Zuschlag für diese Untersuchung erhalten. Nun wurde die Studie auf den Webseiten der Bundesministerien der Justiz und des Innern veröffentlicht.
Die Studie liefert eine Evaluation von Überwachungsbefugnissen der deutschen Sicherheits- und Strafverfolgungsbehörden, z. B. Durchsuchung oder Telefonüberwachung. Erfasst wurden insbesondere die klassischen Sicherheitsgesetze des Bundes und der Länder sowie die Strafprozessordnung. Das Forschungsteam um Max-Planck-Direktor Ralf Poscher bestimmte unter anderem die Intensität der verschiedenen Befugnisse auf der Basis einheitlicher sachlicher Kriterien wie der Persönlichkeitsrelevanz der erhobenen Daten oder der zulässigen Dauer einer Überwachung. Außerdem wurden die – formellen und materiellen – Voraussetzungen für ihre Durchführung, also beispielweise der Anlass oder das Ziel der Überwachung, sowie Vorkehrungen zum Schutz der Betroffenen wie Lösch- und Protokollierungspflichten analysiert. Alle Kriterien wurden aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts abgeleitet.
Insgesamt haben die Forschenden mehr als 3.200 gesetzliche Befugnisse identifiziert und bewertet, auf deren Basis die Sicherheitsbehörden Überwachungsmaßnahmen anordnen und durchführen können. Ihre Analyse ergab, dass die Gesamtheit der sicherheitsrechtlichen Befugnisse von einem sehr hohen Komplexitätsniveau gekennzeichnet ist. Die Eingriffsintensität der großen Mehrzahl der untersuchten Befugnisse bewegte sich im Ergebnis zumeist in einem breiten mittleren Schwerebereich – mit einigen sehr wenig oder sehr stark intensiven „Ausreißern“.
Zugleich machte die Untersuchung große Defizite in der aktuellen Dokumentationspraxis der meisten Behörden sichtbar. „Es ist gegenwärtig nicht möglich, belastbare statistische Daten zu der Anzahl durchgeführter Überwachungsmaßnahmen abzufragen“, heißt es hierzu im Bericht. Dies ist laut den beteiligten Wissenschaftlern nicht nur ein gravierendes Problem für die auch quantitative Berechnung der gesamtgesellschaftlichen „Überwachungslast“, sondern vor allem aus verfassungsrechtlicher Sicht, da die Dokumentation der behördlichen Anwendungspraxis ein gewichtiger Aspekt bei der Prüfung, ob staatliche Eingriffe in Freiheitsrechte verhältnismäßig sind, ist.
„Für die gesellschaftliche Wahrnehmung von Überwachungsmaßnahmen ist ein empirisch gestütztes und für Bürgerinnen und Bürger nachvollziehbares Bild nicht zuletzt deshalb von besonderer Bedeutung, weil die freiheitsgefährdende Dimension von Überwachungsmaßnahmen in der öffentlichen Diskussion sonst leicht über-, aber auch unterschätzt werden kann“, erklärt Projektleiter Ralf Poscher. So führten etwa die Befugnisse zur Online-Durchsuchung regelmäßig zu Besorgnis in der gesellschaftlichen Diskussion – ohne dass tatsächlich in Rechnung gestellt werde, wie selten sie tatsächlich zum Einsatz kommen.
Poscher und Mitautor Michael Kilchling weisen zudem auf die demokratische Bedeutung der Überwachungsgesamtrechnung als Transparenzinstrument hin. „Transparenz als Voraussetzung demokratischer Willensbildung und Teilhabe setzt den Zugang zu Informationen voraus“, sind sich die beiden Rechtswissenschaftler einig. Das im Rahmen des Projekts entwickelte Modell könne ein neues Niveau gesellschaftlicher Transparenz und evidenzbasierte Erkenntnisse in die rechtspolitische Diskussion zum Spannungsfeld von Sicherheit und Freiheit einbringen.
Die Ergebnisse umfassen insgesamt drei Bände: den eigentlichen Forschungsbericht, ein Manual und einen Datenband, was die große Komplexität der Studie unterstreicht. Sie bestätigt die Plausibilität und Durchführbarkeit des entwickelten Konzepts. Eine verbesserte behördliche Transparenz hinsichtlich aller relevanten Überwachungsaktivitäten der deutschen Sicherheitsbehörden, auch und vor allem durch eine bessere Nutzung digitaler Möglichkeiten, erscheint unabdingbar.
Projektleitung: Ralf Poscher, Michael Kilchling.
Forschungsteam: André Bartsch, Svenja Behrendt, Marc Bovermann, Sabrina Ellebrecht, Johanna Fink, Jakob Hohnerlein, Jakob Mutter, Jonah Röper, Isabelle Weiss, Maja Werner.
Download Überwachungsgesamtrechnung, Band 2 Manual, Band 3 Datenbank