Warum ist Gewalt in benachteiligten Gemeinden so ausgeprägt?

Kriminologen finden heraus, unter welchen Umständen Menschen bereit sind, ihre Mitmenschen auszunutzen

22. Februar 2023

Die Anzahl der Gewaltverbrechen ist je nach Ort sehr unterschiedlich. In Chicago beispielsweise ist die Mordrate in einigen Vierteln mehr als hundertmal so hoch wie in anderen Gegenden. Für die am meisten von Gewalt geprägten Orte gilt aber, dass sie auch die wirtschaftlich am stärksten benachteiligten und sozial ungleichsten sind. Gleich­zei­tig ist Gewalt in diesen Gegenden ein beständiges Phänomen. Selbst wenn man Zu- und Wegzüge bzw. Verbes­serun­gen der wirtschaftlichen Situation berücksichtigt, bleibt das Gewaltpotential hoch. Diese Phänomene sind zwar seit Langem bekannt, allerdings sind die dahinter liegenden Gründe längst nicht geklärt. Diese For­schungs­lücke versuchen die Kriminologen Benoît de Courson, Willem Frankenhuis, Daniel Nettle und Jean-Louis van Gelder mit der Publikation Why is violence high and persistent in deprived communities? (Warum ist Gewalt in benachteiligten Gemeinden so ausgeprägt und beständig) zu schließen.

In der vorliegenden Studie zeigen die Autoren – eine Gruppe von Kri­mi­no­logen am Max-Planck-Institut für die Erforschung von Krimina­li­tät, Sicherheit und Recht (de Courson, van Gelder, Frankenhuis) und der Ecole Normale Supérieure-PSL in Paris (Nettle) – dass hinter diesen Phänomenen ein- und dieselbe Ursache steckt. Anhand eines formalisierten Computermodells simulierten de Courson und seine Kollegen zu diesem Zweck eine Welt, in der künstliche Menschen, sogenannte „Agenten“, Entscheidungen treffen und miteinander interagieren. Das Neue an diesem Modell ist, dass es annimmt, dass Menschen immer zunächst versuchen, ihre Grundbedürfnisse zu stillen. Das bedeutet, dass sie mit Blick auf ihre wirtschaftlichen Ressourcen eine bestimmte „Verzweiflungsschwelle“ nicht zu unterschreiten versuchen, z. B. dass sie alles tun, um  ihre Kinder zu ernähren oder ihre Miete zu zahlen. Mithilfe dieses innovativen Modells konnten die Wissenschaftler heraus­finden, dass jene Personen, die ihre Grundbedürfnisse nicht mehr stillen können, in der Folge aus Verzweiflung bereit waren, andere Menschen auszunutzen – ganz unabhängig von drohenden Konsequenzen. Damit wollen sie sich alle Chancen offenhalten, um nicht ganz unterzugehen. Umgekehrt wurden andere Agenten gewalttätig (selbst wenn sie die genannte Verzweiflungsschwelle noch nicht unterschritten haben), um ein Signal ihrer Stärke auszusenden und so ihre Chancen zu erhöhen, selbst nicht ausgenutzt zu werden (von den verzweifelten Personen).

„Unser Modell liefert eine Erklärung dafür, warum steigende Armut und Ungleichheit in der Gesellschaft mit mehr Gewalt einhergehen“, erklärt de Courson. In früheren Modellen ohne eine solche Verzweiflungsschwelle wurde vorausgesagt, dass Gewalt dazu diene, die Ausnutzung anderer zu „regulieren“ und somit das System wieder zu stabilisieren. Allerdings konnten diese Modelle nicht erklären, warum Kriminologen eine Konzentration der Gewalt an bestimmten Orten beob­ach­ten. „Ein ganz anderes Bild ergibt sich aus der Tatsache, dass verzweifelte Personen kaum mehr etwas zu verlieren haben: In diesem Szenario hat Gewalt keine abschreckende Wirkung mehr, sondern ‚verschiebt‘ sich lediglich auf andere Personen, was wiederum weitere Gewalt schürt“, ergänzt de Courson. Diese Dynamik mache Gewalt „ansteckend“ und sorge für einen sogenannten Hysterese-Effekt, der erklärt, warum die Folgen wirtschaftlicher Benachteiligung auch dann noch zu spüren sind, wenn eine Gegend eigentlich nicht mehr benachteiligt ist. So ließe sich erklären, warum Gewalt in von Gewalt geprägten Orten ein dauerhaftes Phänomen bleibt. Im Modell der Wissenschaftler können zwei ähnlich benachteiligte Gemeinden aus dem bloßen Grund unterschiedlich stark von Gewalt betroffen sein, dass eine von ihnen in der Vergangenheit stärker benachteiligt war.  

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Faktoren „Verzweiflungsschwelle“ und das „Zeigen von Stärke“ im Zusam­men­spiel erklären können, warum Gewalt ein ortübergreifend stark schwankendes Phänomen ist, warum sie dauerhaft besteht, und warum Armut und Ungleichheit in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle spielen. Aus diesen Erkennt­nis­sen lässt sich die These ableiten, dass die Bekämpfung von Armut, insbesondere die Beseitigung wirtschaftlicher Benachteiligung durch die Sicherung der Grundbedürfnisse aller Menschen, einen positiven Dominoeffekt haben könnte. Die Wissenschaftler sind überzeugt: Maßnahmen zur Armutsbekämpfung würden nicht nur den am stärksten benach­tei­lig­ten Menschen zu Gute kommen, sondern auch die Wurzeln der Gewalt in der übrigen Bevölkerung kappen. 

  • Benoît de Courson ist Doktorand am Max-Planck-Institut für die Erforschung von Kriminalität, Sicherheit und Recht in Freiburg im Breisgau (Abteilung Kriminologie).
  • Dr. Willem Frankenhuis ist Senior Researcher am Max-Planck-Institut für die Erforschung von Kriminalität, Sicher­heit und Recht in Freiburg im Breisgau (Abteilung Kriminologie) sowie Associate Professor of Psychology an der Universität Utrecht in den Niederlanden.
  • Prof. Daniel Nettle ist Forschungsleiter an der Ecole Normale Supérieure-PSL, Paris/Frankreich.
  • Prof. Jean-Louis van Gelder ist Direktor am Max-Planck-Institut für die Erforschung von Kriminalität, Sicher­heit und Recht in Freiburg im Breisgau sowie Leiter der Abteilung Kriminologie.

Publication:

Benoît De Courson, Willem E. Frankenhuis, Daniel Nettle, and Jean-Louis Van Gelder, "Why is violence high and persistent in deprived communities? A formal model", (2022).

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