Wie bestimmte Milieus ihre Konflikte regeln
Max-Planck-Team legt „Studie Paralleljustiz“ für NRW vor
Paralleljustiz ist ein Phänomen, bei dem Verwandtschaft oder Gewinninteressen eine größere Rolle spielen als Religion. Das geht aus der "Studie Paralleljustiz" hervor, die ein Max-Planck-Team in Kooperation mit dem Justizministerium Nordrhein-Westfalen erstellt und dieser Tage vorgestellt hat. Der Begriff „Paralleljustiz“ – man spricht auch von „Schattenjustiz“ oder „Selbstjustiz“ – meint, dass neben dem staatlichen Justizsystem ein weiteres System existiert, das keinerlei Berührungspunkte mit der rechtsstaatlichen Ordnung hat. Konflikte werden außerhalb der staatlichen Justiz, etwa durch dritte Personen wie Familienoberhäupter, Schiedsrichter oder sogenannte Friedensrichter, geregelt und beigelegt.

Paralleljustiz kommt vor allem in Gruppen mit starken Loyalitätserwartungen und hoher Sozialkontrolle vor, sagte Clara Rigoni, Senior Researcher am Max-Planck-Institut zur Erforschung von Kriminalität, Sicherheit und Recht, bei der Vorstellung der Studie in Düsseldorf. Die Konfliktbeilegung wird von Autoritätspersonen aus bestimmten Familienverbänden, manchmal mit Zwang oder starkem sozialen Druck betrieben, heißt es in der Studie, die die Freiburger Wissenschaftlerin mitverfasst hat.
Ein weiteres Ergebnis: Wichtiger als religiöse Aspekte sind Verwandtschaft, nationale Identität oder gemeinsame Gewinninteressen. „Es geht um die Tradition, und weniger um religiöse Normen“, sagt Clara Rigoni. Als Beispiele für Gruppen, in denen finanzielle Interessen im Vordergrund stehen, nennt sie kriminelle Rockergruppen oder die Mafia.
Staatliche Behörden wünschen sich mehr Flexibilität
Bei den meisten Straftaten im Zusammenhang mit Paralleljustiz in Nordrhein-Westfalen handelt es sich um Körperverletzungs- und Tötungsdelikte, Vermögens- und Rauschgiftdelikte, Betrug, Nötigung, Bedrohung, Entführung, Menschenhandel und Zwangsheirat, heißt es in der Studie weiter. Konkrete Zahlen und Statistiken zu den unterschiedlichen Ausprägungen kann die Studie allerdings nicht liefern. Ein Grund hierfür ist, dass in vielen Fällen keine Anzeige erstattet wird, sondern sich die Behörden nur auf Indizien stützen. Um dem Phänomen besser begegnen zu können, wünschen sich die staatlichen Behörden daher mehr Flexibilität bei ihren Ermittlungen. In den Befragungen der Wissenschaftler gaben Experten aus Polizei und Justiz beispielsweise an, sie wünschten sich mobile Videovernehmungen der Zeugen und Geschädigten, die dann später auch vor Gericht verwendet werden dürfen, oder mehr Möglichkeiten bei der Telefonüberwachung.
Einig sind sich die Behörden und die Wissenschaftler darüber, dass verbesserte Schutzmaßnahmen für Zeugen und potentielle Aussteiger nötig sind. Der Ausstieg aus Familien(clans) gilt als besonders schwierig. Hierfür seien spezielle Programme nötig, die sich den besonderen psychologischen Herausforderungen stellten. „Opferschutzprogramme sind extrem wichtig“, erklärt Clara Rigoni. Man kenne solche Programme zwar schon aus dem Bereich der Organisierten Kriminalität. „Hierbei geht es aber nicht nur um den Ausstieg aus einer Organisation, sondern um den Ausstieg aus einer Familie. Das ist für die Betroffenen viel, viel schwieriger“, so die Wissenschaftlerin.
Die „Studie Paralleljustiz“ ist ein gemeinsames Forschungsprojekt des Max-Planck-Instituts zur Erforschung von Kriminalität, Sicherheit und Recht (Freiburg) und des Max-Planck-Instituts für ethnologische Forschung (Halle an der Saale) in Kooperation mit dem Justizministerium Nordrhein-Westfalen. Das Team bestehend aus dem Rechts- und Islamwissenschaftler Hatem Elliesie und der Rechtswissenschaftlerin und Kriminologin Clara Rigoni führte Interviews mit Justiz- und Polizeibehörden und analysierte Akten von Staatsanwaltschaften und Gerichtsurteilen. In sogenannten runden Tischen wurden Informationen mit Richtern, Staatsanwältinnen, Ermittlungsbehörden und Sozialarbeitern ausgetauscht.
Literatur
„Paralleljustiz in Nordrhein-Westfalen aus strafrechtlicher Sicht“
„Paralleljustiz – Lagebild Nordrhein-Westfalen“
Podcast
Gibt es eine Paralleljustiz?
Alternative Konfliktregulierung in Deutschlands Einwanderungsgemeinschaften
Manchmal kommt es vor, dass Straftaten nicht bei der Polizei angezeigt werden. In Einwanderungsfamilien werden stattdessen hin und wieder sogenannte Friedensrichter oder Schlichter bestellt. Diese kommen zumeist aus demselben Kulturkreis und haben die Aufgabe, Konflikte unabhängig von der deutschen Polizei und Justiz zu regeln. Die Juristin Dr. Clara Rigoni forscht über solche außergerichtliche Konfliktregulierungen in Deutschland. Gemeinsam mit einem Team aus Ethnologinnen und Ethnologen will sie herausfinden, wie diese Praktiken u.a. in afghanischen, türkisch-libanesischen, türkischen und Roma-Gemeinschaften aber auch im Rocker-Milieu genau aussehen – ein wissenschaftliches Großprojekt, das es bislang in dieser Form noch nicht gab. In der neuen Folge des Podcast erklärt die Juristin, warum es unabdingbar ist, mehr über das Phänomen der alternativen Konfliktregulierung zu erfahren, wie deutsche Behörden damit umgehen und mit welchen Mitteln und Kniffen dagegen angegangen werden sollte.