Wie intensiv kann der Staat seine Bürger digital überwachen?
Wissenschaftler des Freiburger Max-Planck-Instituts erstellen Modell eines Überwachungsbarometers für Deutschland – Erste Daten voraussichtlich noch in diesem Jahr
Von welchen Behörden und wie intensiv werden die Bürgerinnen und Bürger in Deutschland digital überwacht? Bislang gibt es kaum belastbare Informationen darüber, welche Überwachungsmaßnahmen Behörden hierzulande in welcher Intensität durchführen. Diese Lücke will das Freiburger Max-Planck-Institut zur Erforschung von Kriminalität, Sicherheit und Recht mit der Erstellung eines sogenannten Überwachungsbarometers schließen.
Die Digitalisierung hat in alle Lebensbereiche der Bürgerinnen und Bürger Einzug gehalten. Überall werden Datenspuren hinterlassen, Datensammlungen entstehen. Im Auftrag der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit hat das Max-Planck-Institut (MPI) zur Erforschung von Kriminalität, Sicherheit und Recht in Freiburg ein Modell entwickelt, das die Überwachungslast auf der Grundlage der aktuell existierenden rechtlichen Zugriffsmöglichkeiten mit der realen Zugriffspraxis verknüpft und auf dieser Basis die tatsächliche Belastung erfasst. Dieses Überwachungsbarometer soll dem Gesetzgeber als Grundlage für eine bürgerrechtsfreundliche und grundrechtskonforme Gesetzgebung dienen.
„Ziel unserer Forschung ist es aufzuzeigen, wo auf der Grundlage der aktuellen Gesetzgebung die realen Schwerpunkte der Überwachung liegen. Durch das Überwachungsbarometer schaffen wir eine solide Grundlage für die rechtspolitische Debatte“, erklärt Rechtsprofessor Ralf Poscher, Direktor am MPI, der das Projekt gemeinsam mit Dr. Michael Kilchling leitet. Diese rechtspolitische Debatte ist in der Tat hochaktuell: In ihrem Koalitionsvertrag kündigt die neue Bundesregierung „eine Überwachungsgesamtrechnung und bis spätestens Ende 2023 eine unabhängige wissenschaftliche Evaluation der Sicherheitsgesetze und ihrer Auswirkungen auf Freiheit und Demokratie im Lichte technischer Entwicklungen“ an.
Richtervorbehalt, Dauer, Heimlichkeit und Anlass von Überwachungsmaßnahmen geben Auskunft über deren Intensität

Wie geht die Erstellung des Überwachungsbarometers vonstatten? Zunächst verschaffen sich die Wissenschaftler einen Überblick über die Datensammlungen, die es einzubeziehen gilt. Diese Überwachungsszenarien reichen von der klassischen Telekommunikationsüberwachung, über die Abfrage von Account-Daten bei Telemediendiensten bis hin zur anlasslosen Vorratsdatenspeicherung von Kundendaten bei Banken zur Geldwäschekontrolle oder von Flugpassagierdaten zur Terrorismusbekämpfung.
Die Forscher analysieren dann, welche Sicherheitsbehörden – BKA, Landespolizei, Staatsanwaltschaften – auf Basis welcher rechtlichen Grundlagen Zugriff auf diese Daten haben und unter welchen rechtlichen Bedingungen der Zugriff überhaupt erfolgen kann. Erst dann können sie die spezifischen Zugriffszahlen für jeden der ausgewählten Sachverhalte in einem bestimmten Beobachtungszeitraum ermitteln. Hierfür sammeln sie anonymisierte statistische Daten; sensible personenbezogene Informationen erhalten sie nicht.
Für ihr Forschungsprojekt haben die MPI-Wissenschaftler eine Formel entwickelt, die die Anzahl der Zugriffe (quantitative Komponente) ebenso wie ihren jeweiligen Intensitätswert (qualitative Komponente) berücksichtigt. „Auf diese Weise können wir die Überwachungslast nach einem einheitlichen Maßstab messen“, erklärt Co-Projektleiter Michael Kilchling. Bei der Untersuchung der Eingriffsintensität spielen Kriterien wie beispielsweise die Heimlichkeit einer Maßnahme, deren Anlass und Dauer eine Rolle, aber auch, ob die Überwachungsmaßnahme von einem Richter oder einer Richterin veranlasst werden muss.
Am Ende wird ein Überwachungsbarometer stehen, das einen detaillierten Überblick über die digitale Überwachung in Deutschland geben wird. Durch die periodische Anlage können auch die bisherige und die weitere Entwicklung insgesamt und in den einzelnen Sektoren (Telekommunikations-, Finanztransaktions-, Mobilitätsdaten u. v. a. m.) regelmäßig verfolgt und sensible Bereiche identifiziert werden. Die erste Ausgabe des Überwachungsbarometers geht voraussichtlich noch im Laufe des Jahres 2022 an die Öffentlichkeit. Das Konzept ist jedoch so angelegt, dass es kontinuierlich erweitert werden kann. Perspektivisch könnte es auch zu einem EU-weiten Anschlussprojekt weiterentwickelt werden, das dann den Vergleich des Überwachungsniveaus in verschiedenen Staaten erlaubt.