Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Ulrich Sieber ist emeritierter Direktor am Max-Planck-Institut zur Erforschung von Kriminalität, Sicherheit und Recht (bis 2020: Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht) sowie Honorarprofessor an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg und der Ludwig-Maximilians-Universität München.
Forschungsprogramm
Das von Prof. Sieber am Freiburger Max-Planck-Institut im Jahr 2004 begründete Forschungsprogramm analysiert die aktuellen Veränderungen der Kriminalität, des Strafrechts und der Kriminalpolitik in der globalen Informations- und Risikogesellschaft. Im Mittelpunkt stehen die fundamentalen Herausforderungen durch Globalisierung, Digitalisierung und neue Risiken, die mit einer zunehmenden Bedeutung der Risikoprävention einhergehen. Diese Veränderungen werden exemplarisch an aktuellen Formen komplexer transnationaler Kriminalität untersucht: insbesondere Cybercrime, Wirtschaftskriminalität, Geldwäsche, organisierte Kriminalität und Terrorismus.
Diese drei grundlegenden Veränderungen als Folge der Globalisierung, der Informationsgesellschaft und der Risikogesellschaft haben zu zentralen Paradigmenwechseln und Herausforderungen für die Kriminalitätskontrolle geführt. Diese neuen Herausforderungen können deswegen auch nicht mehr mit dem klassischen Strafrecht allein bewältigt werden, das von seinem Ansatz her nur national durchsetzbar ist, das die neuen IT-spezifischen Probleme nicht angemessen berücksichtigt und das primär repressiv auf vergangene Handlungen ausgerichtet ist.
Ziel des Forschungsprogramms von Prof. Sieber ist daher die Schaffung eines transnational wirksamen Strafrechts (insbesondere durch neue Kooperationsmechanismen und supranationales Strafrecht), die Weiterentwicklung des Informationsstrafrechts (unter Berücksichtigung der immateriellen Spezifika von Information und der Ubiquität und des Machtpotentials von Daten) sowie die Konzeption von neuen Formen der Kriminalprävention (durch ein angemessenes „präventives“ Risikostrafrecht sowie die Einbeziehung von nicht-strafrechtlichen Rechtsregimen). Dazu sind die rechtsstaatlichen Garantien zu schaffen, die diese neue Architektur eines effektiven und präventiven Sicherheitsrechts mit ihren nationalen, internationalen und privaten Akteuren ergänzen müssen.
Die Methoden zur Erreichung dieser Forschungsziele sind neben der empirischen Sozialforschung vor allem die Entwicklung einer internationalen Rechtsdogmatik und die funktionale Strafrechtsvergleichung sowie die Einbeziehung der rechtstheoretischen, völkerrechtlichen, europarechtlichen und menschenrechtlichen Grundlagen von rechtlichen Mehrebenensystemen. Besondere Bedeutung kommt dabei der Strafrechtsvergleichung zu, die in dem Forschungsprogramm nicht nur eine Forschungsmethode ist, sondern auch zentraler Forschungsgegenstand, der mit einem neuartigen computerbasierten rechtsvergleichenden Informationssystem weiterentwickelt wird. [http://infocrim.org/]
Die bisherigen Forschungen zeigen im Ergebnis, dass die Kontrolle von komplexer und transnationaler Kriminalität sehr viel effektiver ausgestaltet werden kann, wenn die entsprechenden Regelungen international harmonisiert und die Spezifika der Digitalisierung berücksichtigt werden und das Strafrecht im Verbund mit alternativen Rechtsregimen eingesetzt wird. Voraussetzung ist allerdings, dass die damit entstehende neue Architektur des Sicherheitsrechts mit einer Architektur der rechtsstaatlichen Sicherungen einhergeht.
Vita
Prof. Sieber begann seine akademische Laufbahn von 1973 bis 1987 als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Freiburg, wo er 1977 mit einer Studie über „Computerkriminalität und Strafrecht“ promovierte. Er habilitierte 1987 bei Prof. Dr. Klaus Tiedemann an der Universität Freiburg mit einer Arbeit über das Verhältnis von materiellem Strafrecht und Strafprozessrecht. Seine wichtigsten akademischen Stationen waren:
- 1987 wurde er unmittelbar nach seiner Habilitation als Universitätsprofessor auf den Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht und Informationsrecht der Universität Bayreuth berufen.
- 1991 wechselte er auf den Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht, Informationsrecht und Rechtsinformatik an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg, wo er von 1997 bis 1998 Dekan der Juristischen Fakultät war.
- 1994 lehnte er einen Ruf auf den neu gegründeten Lehrstuhl für Rechtsinformatik an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster ab und war er für ein Semester als Gastprofessor an der Universität Tokio tätig.
- Im Jahr 2000 nahm er den Ruf an die Ludwig-Maximilians-Universität München auf den Lehrstuhl von Prof. Dr. Claus Roxin an.
- Von 2003 bis Ende 2019 forschte er als Nachfolger von Prof. Dr. Hans-Heinrich Jescheck und Prof. Dr. Albin Eser als Direktor am Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht in Freiburg.
- In dieser Zeit war er auch Honorarprofessor und weiterhin wissenschaftlicher Leiter des von ihm gegründeten Rechtsinformatikzentrums an der Universität München; er lehrte gleichzeitig auch als qualifizierter Honorarprofessor und Fakultätsmitglied an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg.
- 2007 gründete er in Kooperation mit der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Freiburg die von ihm geleitete International Max Planck Research School for Comparative Criminal Law, deren Dissertationen in das Forschungsprogramm des Instituts integriert waren und durch zahlreiche Preise ausgezeichnet wurden.
[https://www.imprs-cc.de/]
Neben seiner akademischen Tätigkeit war und ist Prof. Sieber auch in der Rechtspraxis aktiv, vor allem in den Bereichen des Computerrechts, des Wirtschaftsstrafrechts, des nationalen und internationalen Strafrechts, des Sicherheitsrechts sowie der Compliance.
- Bereits nach Ablegung des Assessorexamens von 1978 bis 1987 arbeitete er neben seiner Assistententätigkeit als selbständiger Rechtsanwalt und später als Geschäftsführer der von ihm gegründeten Technolex-Unternehmensberatung in München für zahlreiche deutsche und ausländische Unternehmen im Computerrecht, was ihm den aktuellen Zugang zu den Problemen dieses neuen Forschungsgebietes ermöglichte.
- In umgekehrter Richtung beeinflusste er mit seiner angewandten Grundlagenforschung in maßgeblicher Weise auch die Rechtspraxis sowie die deutsche und europäische Kriminalpolitik, zunächst im IT-Recht und dann in den Bereichen des europäischen Strafrechts, des Wirtschaftsstrafrechts, der Organisierten Kriminalität und des Terrorismus. Im Rahmen dieser rechtspolitischen Tätigkeit war er u.a. persönlicher Sonderberater von zwei EG-Kommissaren für Fragen des Computerrechts und des EG-Betrugs und arbeitete für zahlreiche weitere deutsche, ausländische und internationale Institutionen [vgl. die auf dieser Seite genannten Zusatzinformationen].
- In den letzten Jahren kamen als neue Schwerpunkte seiner anwendungsorientierten Grundlagenforschung auch theoretische und angewandte Arbeiten zur Ethik und zu Compliance-Programmen hinzu, u.a. für die Waseda Universität in Tokyo, die Deutsche Forschungsgemeinschaft, die Leopoldina und die Max-Planck-Gesellschaft. Für die zuletzt genannten Arbeiten erhielt er 2018 vom Präsidenten der Max-Planck-Gesellschaft den Max-Planck-Communitas-Preis für außergewöhnliches Engagement für die Belange dieser Forschungsinstitution.
Internationale wissenschaftliche Anerkennung
Die Forschungsergebnisse von Prof. Sieber wurden bereits früh in zahlreichen Sprachen publiziert und übersetzt. Die 2. Auflage seiner Dissertation über „Computerkriminalität und Strafrecht“ erschien 1980 in japanischer Sprache, sein 1980 geschriebenes englisches Buch „The International Handbook on Computer Crime“ 1990 in französischer und 1996 in persischer Sprache. Zusammenfassende Bücher mit wichtigen Aufsätzen zu seinem übergreifenden Forschungsprogramm am Freiburger Max-Planck-Institut wurden 2011 in koreanischer, 2012 in japanischer und chinesischer sowie 2021 in türkischer Sprache veröffentlicht [vgl. die auf dieser Seite abrufbare Publikationsliste].
Für seine wissenschaftlichen Leistungen und für sein Engagement in der internationalen Zusammenarbeit wurde Prof. Sieber mit neun Ehrendoktorwürden ausgezeichnet: von der Waseda University Tokio/Japan, der Nationalen und Kapodistrias-Universität Athen/Griechenland, der Universidad Nacional Mayor de San Marcos (Lima/Peru), der Universidad Nacional del Altiplano de Puno/Peru, der Freien Universität Burgas/Bulgarien, der Universität Pécs/Ungarn, der Süd-West-Universität Neofit Rilski (Blagoewgrad/Bulgarien), der West University Timisoara/Rumänien sowie der Universidad de Chiclayo/Peru.
Die Juristischen Fakultäten der Peking-Universität, der Renmin-Universität, der Beijing Normal-Universität und der Universität Wuhan (VR China) ernannten Prof. Sieber jeweils zum Gastprofessor. Im Jahr 2021 wurde er von der Société Internationale de Défense Sociale et pour une politique criminelle humaniste für sein rechtspolitisches Engagement mit der Beccaria-Medaille ausgezeichnet.