Verbot der Ex-post-Triage
Rechtsexperten nehmen zu Infektionsschutzgesetz Stellung
Juristinnen und Juristen aus ganz Deutschland haben den Gesetzentwurf des Bundesgesundheitsministeriums zur Änderung des Infektionsschutzgesetzes kritisiert. Das Ministerium hatte zuvor keine juristischen Fachgesellschaften um Stellungnahmen zu besagtem Gesetzentwurf gebeten. Mit einem jetzt veröffentlichten Schreiben weisen insgesamt 16 Rechtsprofessorinnen und -professoren aus ganz Deutschland auf mögliche verheerende Konsequenzen der Gesetzesänderung hin.

Das Bundesgesundheitsministerium hat einen aktualisierten Gesetzentwurf vorgelegt, wonach nur die Überlebenswahrscheinlichkeit von Patientinnen und Patienten darüber entscheiden soll, wer zuerst medizinisch versorgt wird, wenn die Ressourcen im Krankenhaus knapp sind. Die Option einer „Ex-post“-Triage – also dass Ärzte die Behandlung eines Patienten zugunsten eines anderen mit besseren Überlebenschancen abbrechen dürfen – wird darin explizit verboten.
Juristinnen und Juristen aus Deutschland, darunter die Strafrechtsprofessorin und Max-Planck-Direktorin Tatjana Hörnle, begrüßen das Gesetz grundsätzlich. Allerdings sehen sie in der Entscheidung, eine Ex-post-Triage grundsätzlich zu verbieten, eine große Gefahr. Dass zwei oder mehrere Patienten gleichzeitig in die Notaufnahme eingeliefert werden, dürfte in der Praxis weniger häufig vorkommen als zeitversetztes Eintreffen, schreiben die Experten in einer Stellungnahme, die sie dem Bundesgesundheitsministerium zukommen ließen. Der Grundansatz, wonach nur die Überlebenswahrscheinlichkeit maßgeblich sein soll, ob ein Intensivbett zur Verfügung steht, werde deshalb in den meisten Fällen aufgegeben.
Die aktuelle und kurzfristige Überlebenswahrscheinlichkeit werde nicht verglichen, heißt es in der Stellungnahme weiter. Stattdessen würden nur diejenigen behandelt, die zufällig zuerst eingetroffen sind und ggfs. mit langen Liegezeiten alle Behandlungsplätze belegen. Später eintreffende Patienten würden gar nicht mehr oder nicht mehr den Standards entsprechend intensivmedizinisch versorgt. Oder anders ausgedrückt: Patienten, die neu ankommen, etwa mit einem Herzinfarkt, Schlaganfall oder nach einem Verkehrsunfall, würden alle abgewiesen und in vielen Fällen sterben – und das, obwohl sie eine deutlich höhere Chance zu überleben hätten, als manche Patienten, die schon länger auf der Intensivstation liegen.
De facto-Schließung von Intensivstationen trifft behinderte und nicht behinderte Menschen gleichermaßen
Explizit gehen die Unterzeichnenden in ihrer Stellungnahme auch auf den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 16. Dezember 2021 ein. Danach muss der Gesetzgeber Vorkehrungen zum Schutz behinderter Menschen für den Fall einer pandemiebedingt auftretenden Triage treffen.
Die Rechtsprechung des BVerfG steht der Argumentation der Juristinnen und Juristen nicht entgegen. Vielmehr würde die de facto-Schließung von Intensivstationen sowohl behinderte wie nicht behinderte Menschen treffen, die trotz akut lebensbedrohlichem, gut zu behandelndem Zustand, etwa einem Herzinfarkt oder Schlaganfall, bei Verschlechterung einer Vorerkrankung, pandemiebedingter Neuerkrankung oder nach einem Unfall, keine Chance hätten, intensivmedizinisch versorgt zu werden.
Behandelnde verdienen Rechtssicherheit
Mit ihrer Kritik an dem Gesetzentwurf schließen sich die Rechtsexperten der Einschätzung der medizinischen Fachgesellschaften an. Die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF), die wissenschaftliche Fachgesellschaften aus allen Bereichen der Medizin vertritt, betont, dass es für Medizinerinnen und Mediziner notwendig sei, für Rechtssicherheit zu sorgen. Die Expertinnen und Experten aus Recht und Medizin sind sich einig: Behandelnde, die in der Notlage einer zugespitzten Pandemie unter extremem Stress stehen, verdienen Rechtssicherheit. Wenn Ärztinnen und Ärzte sich in verzweifelter Lage dafür entscheiden, zu reevaluieren und das Leben der Menschen mit guter Prognose zu retten, sollten sie nicht dafür bestraft werden. Neubewertungen und entsprechend begründete Behandlungsabbrüche sollten im neuen Gesetz zugelassen werden.