Häusliche Gewalt hat in der Pandemie zugenommen
Internationaler Tag gegen Gewalt an Frauen macht auf das Thema aufmerksam
Häusliche Gewalt, vor allem gegen Frauen und Kinder, ist ein großes Problem in unserer Gesellschaft. Während der Corona-Pandemie haben sich die Notlage für die Betroffenen und die Herausforderungen für das Hilfesystem noch weiter verschärft. Am Beispiel Baden-Württemberg hat dies eine Forschungsgruppe des Freiburger Max-Planck-Instituts zur Erforschung von Kriminalität, Sicherheit und Recht in Kooperation mit der Evangelischen Hochschule Freiburg untersucht. Anlässlich des Internationalen Tages zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen am 25.11., der von den Vereinten Nationen initiiert wurde, werden erste Teilergebnisse herausgegeben.
Für die Untersuchung nahm die Freiburger Forschungsgruppe Space, Contexts, and Crime die polizeilichen Einsatzdaten der Fälle häuslicher Gewalt in Baden-Württemberg von 2018 bis 2021 in den Blick. Danach sind die Fälle von häuslicher Gewalt während des ersten Lockdowns kontinuierlich angestiegen. Mit den ersten Lockerungen der Restriktionen und über den Sommer hinweg gingen die Einsätze stetig und deutlich zurück.
Im zweiten Lockdown war wieder ein steigender Trend nach oben zu erkennen, der allerdings – anders als nach dem ersten Lockdown – nicht mit den Lockerungen wieder zurückging, sondern weiter anhielt. Insgesamt lag das Niveau der Fallzahlen nach dem zweiten Lockdown deutlich höher als vor der Pandemie. Inwieweit die Zahlen mit den Folgen der Pandemie zusammenhängen, ist nach Ansicht von Forschungsgruppenleiter Dietrich Oberwittler allein auf Basis der Polizeidaten schwer einzuschätzen. „Der Anstieg könnte auch mit dem aktuellen Ausbau spezieller Kapazitäten zum Umgang mit häuslicher Gewalt bei der baden-württembergischen Polizei zusammenhängen“, gibt der Soziologe zu Bedenken. Auch habe es bereits vor der Pandemie ähnliche starke Wellenbewegungen gegeben.
Permanente Anwesenheit des Aggressors
Interessanter sind daher die Ergebnisse der Befragungen in den Hilfeeinrichtungen, die das Forscherteam mithilfe von sogenannten qualitativen Interviews durchgeführt hat, und die ein etwas differenzierteres Bild der Lage wiedergeben. Befragt wurden u. a. Mitarbeitende von Beratungsstellen für Betroffene von sexualisierter Gewalt, Beratungsstellen für Betroffene partnerschaftlicher Gewalt, von Frauenschutzhäuser, vom Jugendamt oder der Schulsozialarbeit.
Die Interviewpartner*innen bei den Hilfeeinrichtungen berichteten, dass mit Beginn des ersten Lockdowns die Anfragen in den Einrichtungen schlagartig zurückgegangen sind. Die Befragten vermuten, dass Betroffene weniger Möglichkeiten hatten, mit den Beratungsstellen in Kontakt zu treten, da sie wesentlich mehr Zeit mit ihrem „Aggressor“ verbringen mussten; die Rede ist häufig von einer „permanenten Anwesenheit“, etwa wegen Kurzarbeit oder Homeoffice auf Seiten des Aggressors, aber einfach eben auch wegen der Isolation vom sozialen Netzwerk aufgrund der Lockdown-Restriktionen und Kontaktbeschränkungen. Andere Wege, die genutzt werden können, um ins Hilfesystem zu gelangen, wie der Kontakt zu Fachkräften in Schulen oder Kindergärten, fielen in dieser Zeit ebenfalls weg.
Zur psychischen Belastung kommen finanzielle Probleme hinzu
Mit den ersten Lockerungen stieg die Zahl der Anfragen wieder deutlich an, berichten die Befragten weiter. Manche Hilfesuchenden hatten in dieser Phase sogar häufigeren Kontakt mit den Hilfestellen als vor der Pandemie, was u. a. damit zusammenhängt, dass sich bei den Betroffenen zwischenzeitlich mehrere Probleme angehäuft hatten. So kamen zu psychischen Problemen häufig noch finanzielle Belastungen hinzu.
Mit dem zweiten Lockdown gab es wieder einen leichten Rückgang an Anfragen, der jedoch nicht so deutlich ausfiel wie während des ersten Lockdowns. Meist waren die Klientinnen, die sich in den Einrichtungen meldeten, bereits vor der Pandemie von Gewalt betroffen. Es habe also in der Regel keine „neuen“ Fälle gegeben; allerdings haben die Dynamiken und Eskalation angezogen.
Bis das tatsächliche Ausmaß der Gewalt während der Pandemie sichtbar wird und dann aufgearbeitet werden kann, wird es noch eine Weile dauern. Darin waren sich die Befragten zum Zeitpunkt der Interviews einig. „Aus den bisherigen Erfahrungsberichten können wir aber durchaus schon herauslesen, dass sich die psychische Belastung der Betroffenen von Gewalt durch die Pandemie deutlich verschärft hat“, sagt Natalie Gehringer, die als Mitglied der Forschungsgruppe gerade an ihrer Promotion arbeitet.
Wie muss es weitergehen?
Um Betroffenen die Unterstützung zu geben, die sie benötigen, braucht es verlässliche und dauerhafte Finanzierung, insbesondere auch für nicht-staatliche Hilfeeinrichtungen. Auch bei diesem Aspekt herrscht unter den Interviewten Konsens. „Um Gewalt gegen Frauen bekämpfen zu können, braucht es flächendeckende Präventionsangebote, Sensibilisierung und Aufklärung, eine Stärkung der ländlichen Regionen, Täter*innenprogramme und stabile Netzwerke von Kooperationspartner*innen“, erklärt Natalie Gehringer.
Die Studie macht deutlich: Zwar ist es den Hilfeeinrichtungen in der Pandemie gelungen, schnell und flexibel auf die neuen Umstände zu reagieren, etwa durch die Einführung von Telefon- und Online-Beratungen. Die Einrichtungen mussten sich dabei jedoch häufig selbst organisieren und Gelder beantragen, was einen erheblichen Mehraufwand und eine hohe Aus- und Belastung der Mitarbeitenden zur Folge hatte.
Die Befragten aus den Hilfeeinrichtungen hoffen und gehen davon aus, dass die steigende Sensibilisierung der Gesellschaft beim Thema Häusliche Gewalt dazu führen wird, dass sich immer mehr Frauen trauen, Hilfe zu suchen. Der am 25.11. begangene Internationale Tag zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen kann dazu beitragen. Die Forschenden vom Freiburger Max-Planck-Institut sehen hier auch die Politik in der Pflicht. „Unsere Studie zeigt unter anderem, dass der Bedarf an Hilfeangeboten groß ist und die Einrichtungen staatlich besser abgesichert werden sollten, um ihre Aufgaben zu erfüllen“, sagt Dietrich Oberwittler.
Der vor wenigen Tagen von Familienministerin Lisa Paus vorgelegte und lange herbeigesehnte Entwurf für ein Gewalthilfegesetz hängt derweil in der Luft. Der Entwurf sieht eine langfristige finanzielle Unterstützung der Hilfeeinrichtungen auch durch den Bund und einen Rechtsanspruch auf Schutz und Beratung in Fällen von häuslicher Gewalt vor. Ob das Vorhaben noch in der aktuellen Legislaturperiode umgesetzt werden wird, bleibt offen.