Keine Blockade, sondern eine Frage der Kompetenz

Beitrag von Tatjana Hörnle zur geplanten EU-Richtlinie zur Bekämpfung geschlechterspezifischer Gewalt

1. Februar 2024

In einem Beitrag für den Verfassungsblog erklärt die Strafrechtswissenschaftlerin Tatjana Hörnle, warum die Bedenken gegenüber einer europäischen Harmonisierung des Vergewaltigungsstraftatbestandes ihrer Ansicht nach richtig sind.

Ein „Offener Brief“ an den Bundesjustizminister vom 29. Januar, den „über 100 namhafte Frauen aus Politik, Kultur und Wirtschaft“ unterzeichnet haben, fordert diesen auf, seine „Blockade-Haltung“ gegenüber einem Vorhaben der Europäischen Kommission auf­zu­geben. Die Kommission setzt sich für eine Richtlinie ein, die der Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt dienen soll. Unter anderem ist eine Vereinheitlichung im Sexualstrafrecht vorgesehen, nämlich beim Tatbestand der Vergewaltigung (Art. 5). Gegen diesen Teil des Vorschlags hat der Rat der Europäischen Union Bedenken, die die Zuständigkeit der Europäischen Union (EU) be­tref­fen; diese werden in einem Gutachten des Juristischen Dienstes detailliert dargelegt. Im Verfassungsblog haben wiederum drei Au­to­rin­nen (Çelebi, Koop und Melchior) die gegenteilige Position vertreten.

Die zentrale Frage ist, inwieweit die Gestaltung von Strafrecht in die Kompetenz der EU fällt. Die Verfasserinnen des „Offenen Briefs“ scheinen davon auszugehen, dass die EU alles könne und dürfe und nur der widerborstige Bundes­justiz­minister ein Hindernis sei. Die Rechtslage sieht anders aus (siehe dazu auch bereits Heger). Die Länder der EU haben sich in grundlegenden Verträgen, darunter dem Vertrag über die Arbeitsweise der EU (AEUV), verständigt, welche Kompetenzen die EU haben soll. Teil der Vereinbarungen ist, dass für das Strafrecht vereinheitlichende Richtlinien nur in sehr begrenztem Umfang erlaubt sind. Grundsätzlich bleibt die Gestaltung des materiellen Strafrechts Ländersache. Eine Ausnahme gilt dann, wenn es um die Bereiche besonders schwerer Kriminalität geht, die eine „grenz­über­schrei­ten­de Dimension“ haben (Art. 83 Abs. 1 AEUV). Der folgende Satz in Art. 83 Abs. 1 AEUV führt die konkreten Anwen­dungs­felder an, darunter Terrorismus, illegaler Drogenhandel, illegaler Waffenhandel, organisierte Kriminalität – Warenverkehr und Aktivitäten dieser Art sind sehr oft internationalisiert, weshalb es offensichtlich ist, dass das nationale Strafrecht nicht mehr ausreicht. Offensichtlich ist die grenz­über­schrei­ten­de Dimension auch bei Computerkriminalität, ebenfalls in 83 Abs. 1 AEUV angeführt. Dass der Richtlinienvorschlag Normen zur Cyberkriminalität (Cyberstalking, Cybermobbing) enthält, ist nicht zu beanstanden. Aber es bleibt rätselhaft, warum die Kommission auf die Idee kam, Vergewaltigung aufzunehmen. Die Logik der Kompetenzverteilung ist nicht, dass die EU für alle schweren Formen der Kriminalität zuständig wäre und die Länder nur noch für minder schwere Delikte. Tötungs- und Körperverletzungsdelikte sind wie die große Mehrheit aller Delikte selbstverständlich in nationalen Strafgesetzen definiert, ohne dass sich die EU einmischen dürfte, und dasselbe muss für Sexualdelikte gelten, die nicht im digitalen Raum begangen werden.

Der Kommissionsvorschlag geht auf das Problem der Zuständigkeit der EU nur sehr kurz und erstaunlich oberflächlich ein. Einziger möglicher Anknüpfungspunkt ist der Umstand, dass bei den Bereichen grenzüberschreitender Kriminalität auch „Menschenhandel und sexuelle Ausbeutung von Frauen und Kindern“ angeführt wird. Gemeint ist die typische Vorgehensweise, Menschen über Landesgrenzen zu transportieren bzw. beim Länderwechsel zu unterstützen, um sie auszubeuten, durch Zwangsprostitution und andere Formen des sexuellen Missbrauchs. Es ist fernliegend, daraus abzuleiten, dass typische Fälle einer Vergewaltigung gemeint seien. Das Gutachten des Juristischen Diensts des Rates geht ausführlich auf die Entstehung der Liste für grenzüberschreitende Kriminalität ein. Die Entstehungsgeschichte deutet darauf hin, dass sich der Begriff „sexuelle Ausbeutung“ auf Fälle bezieht, die mit dem Anliegen „Kampf gegen Menschenhandel“ in engem Zusammenhang stehen. Die zunächst verwendete Formulierung „insbesondere sexuelle Ausbeutung von Frauen und Kindern“ zeigte dies noch klarer. Sie war aber offensichtlich zu eng geworden, als das Bewusstsein dafür entstanden war, dass Menschenhandel ein viel breiteres und diffuseres Phänomen ist. Nicht intendiert war, das gesamte Sexualstrafrecht in den Zuständigkeitsbereich der EU zu überführen. Auch der Wortlaut zeigt dies klar. Ausbeutung ist kein Oberbegriff, unter den sich sämtliche sexuelle Angriffe und sexuelle Gewalt insgesamt fassen lassen. Çelebi, Kopp und Melchior verweisen auf eine Kommentierung, derzufolge unter den Begriff der Ausbeutung sexueller Missbrauch, Ausnutzen von Prostitution und Pornographie gefasst werden können. Das ist richtig, führt aber nicht weiter, da sexuelle Angriffe/sexuelle Übergriffe nicht Unterfälle von Missbrauch sind. Außerdem entsteht das offensichtliche Problem, dass Art. 83 Abs. 1 AEUV, ausgehend von typischen Fällen des Menschenhandels, selektiv Gruppen von potentiellen Opfern nennt, nämlich Frauen und Kinder. Schon deshalb ist es nicht überzeugend, auf dieser Basis zu argumentieren, dass die EU zuständig sei, das Sexualstrafrecht der Länder zu normieren.  Laut Richtlinienvorschlag soll tatsächlich nur die Vergewaltigung einer Frau erfasst werden. Das ist konsequent – aber absurd. Vergewaltigung betrifft meistens Frauen, aber es gibt auch Fälle massiver sexualisierter (Gruppen-)Gewalt gegen andere Opfer. Rechtliche Vorgaben für das Sexualstrafrecht müssen immer geschlechtsneutral formuliert werden, alles andere wäre ein Rückschritt in das Sexualstrafrecht des 19. Jahrhunderts. Auch in anderer Hinsicht bedeuten die Ideen der Kommission einen Rückschritt, nämlich die Fokussierung auf den Begriff der Vergewaltigung und die Modalität „Penetration“. Es ist in modernen Vorschriften zum Sexualstrafrecht, für die sich 2016 auch der deutsche Gesetzgeber entschieden hat, selbstverständlich, alle sexuellen Handlungen zu erfassen. Würden wir über einen Gesetzentwurf des Bundestags reden, wäre ferner von Interesse, ob die Art und Weise, wie Art. 5 des Richtlinienvorschlags „nicht einverständlich“ versteht, im Vergleich zur „Nein heißt nein-Lösung“ in § 177 Abs. 1 StGB Strafbarkeit ausweiten würde (vermutlich nicht, aber die Formulierung des Art. 5 Richtlinienvorschlag wäre auslegungsbedürftig).

Auf die Qualität von Art. 5 des Richtlinienvorschlags kommt es aber letztlich nicht an. Auch wenn man keine inhaltlichen Einwände hätte, ist es nachvollziehbar und richtig, dass der Rat der EU und die Bundesregierung dem Vorschlag der Kommission in der jetzigen Form nicht folgen. Nochmal: Es geht um Zuständigkeiten und darum, dass wir darauf verzichten müssen, die bestehenden Schranken für die Gestaltung von materiellem Strafrecht durch die EU einseitig ausweiten zu wollen. Der Umstand, dass in manchen Ländern geltende nationale Regeln aus unserer (auch meiner) Sicht altmodisch ausfallen und sexuelle Selbstbestimmung nicht optimal schützen, berechtigt zu behutsamer Sachkritik und gibt Grund für konstruktiven Rechtsvergleich und Austausch mit reforminteressierten Kolleginnen und Kollegen. Wir sollten aber im Interesse eines stabilen Zusammenhalts in der EU besser darauf verzichten, durch die extensive Auslegung von Zuständigkeitsregeln anzustreben, mit Richtlinien korrigierend einzugreifen.


Der Beitrag von Tatjana Hörnle ist am 31.01.2024 im Verfassungsblog erschienen.

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