Bundesverfassungsgericht setzt Zeichen für Unparteilichkeit von Richterschaft

Mordfall wird mit neuem Richter verhandelt

29. Januar 2024

Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat der Verfassungsbeschwerde einer wegen Mordes zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilten Frau stattgegeben. Die Frau hatte die Unparteilichkeit eines Richters in Zweifel ge­zo­gen und vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) obsiegt. Dennoch lehnten die deutschen Strafgerichte eine Wiederaufnahme des Verfahrens ab. Der jetzt veröffentlichte Beschluss des BVerfG ist auf einer Linie mit der Einschätzung von Max-Planck-Strafrechtler Morten Boe, der sich wissenschaftlich mit dem Befan­gen­heits­recht beschäftigt und die Prozesse kommentierend begleitete.

Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat der Verfassungs­beschwer­de einer wegen Mordes zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilten Frau – Salina M. – stattgegeben. Die Frau hatte die Unparteilichkeit eines Richters in Zweifel gezogen. Der Grund: Der Richter hatte schon zuvor an einem Verfahren mitgewirkt, bei dem es um den Mordfall ging. Bei dem Prozess war Salina M. nur als Zeugin aufgetreten, allerdings ergaben sich im Verlauf des Prozesses Hinweise auf eine mögliche Tatbeteiligung der Frau. Im nach­fol­gen­den Prozess wurde Salina M. wegen Mordes verurteilt – allerdings unter dem Vorsitz eben jenes Richters, der schon am Vorverfahren beteiligt war. Dagegen wandte sie sich in mehreren Instanzen.

Der EGMR, an den Salina M. am Ende eine Beschwerde richtete, sah berechtigten Zweifel an der Unparteilichkeit des Richters „aufgrund einer sachlichen Vorbefassung mit dem streitgegenständlichen Sach­verhalt“. Der EGMR stellte eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 der Euro­pä­i­schen Konvention für Menschenrechte (EMRK) fest. Doch die deutschen Gerichte – unterstützt vom Generalbundesanwalt – lehnten eine Wiederaufnahme des Ver­fah­rens ab. Nun aber hat das Bundesverfassungsgericht der Verfassungsbeschwerde von Salina M. im Wesentlichen statt­gege­ben. Der Fall wird – ohne den Richter von damals – neu verhandelt. Mit seinem jetzt veröffentlichten Beschluss habe das BVerfG „dem Oberlandesgericht (OLG) in Frankfurt am Main sowie dem Generalbundesanwalt eine verfas­sungs­recht­liche Lehrstunde erteilt“, heißt es in einem Artikel des Legal Tribune Online. Die Strafgerichte hätten den Zugang zu einer erneuten Hauptverhandlung in einer ungerechtfertigten Weise erschwert.

„Vertrauen der Öffentlichkeit in das Rechtssystem langfristig sichern“

Der Strafrechtler Morten Boe, Doktorand am Max-Planck-Institut zur Erforschung von Kriminalität, Sicherheit und Recht, setzt sich wissenschaftlich mit dem Befangenheitsrecht auseinander. Mit dem Beschluss des BVerfG befinde sich das Gericht nun „auf einer klaren gemeinsamen Linie mit dem EGMR“, kommentierte Boe. Das strafprozessuale Befangen­heits­recht sei in seiner Funktion, die objektive Unparteilichkeit des gesetzlichen Richters zu gewährleisten, elementar, um das Vertrauen der Öffentlichkeit in das Rechtssystem langfristig zu sichern, so der Rechtswissenschaftler. Für die Zukunft bestehe der „klare Auftrag, auf eine verfassungskonforme, konventionsrechtsfreundliche und europa­rechts­konforme Auslegung und Anwendung der deutschen Befangenheitsregelungen in Fällen sachlicher Vorbefassung zu achten.“

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