Tatjana Hörnle als Sachverständige beim Bundesverfassungsgericht
Max-Planck-Direktorin spricht sich für Möglichkeit der Wiederaufnahme von Strafprozessen aus
Das Bundesverfassungsgericht verhandelte am 24. Mai darüber, ob eine Wiederaufnahme von Strafprozessen möglich sein soll, wenn neue Beweise vorliegen, die einen bereits freigesprochenen Menschen erheblich belasten. Tatjana Hörnle, die in der mündlichen Verhandlung als Sachverständige geladen war, sprach sich für die Möglichkeit einer Wiederaufnahme aus.
Hintergrund ist ein Fall, bei dem ein der Vergewaltigung und des Mordes an einer Schülerin angeklagter Mann zunächst freigesprochen wurde. Jahre später zeigten neue Möglichkeiten der DNA-Analyse, dass der Mann wahrscheinlich doch der Täter war. In der Folge wurde das Verfahren auf Grundlage einer von der damaligen Großen Koalition 2021 in die Strafprozessordnung neu eingeführten Vorschrift wieder aufgenommen. Gegen diese Wiederaufnahme wendet sich der des Mordes Beschuldigte vor dem Bundesverfassungsgericht.
Art. 103 Abs. 3 GG regelt, dass niemand „wegen derselben Tat auf Grund der allgemeinen Strafgesetze mehrfach bestraft werden“ darf. In der mündlichen Verhandlung erörterte das Gericht am 24. Mai, ob die Neuregelung zur Wiederaufnahme mit diesem verfassungsrechtlichen Verbot vereinbart werden kann.
Tatjana Hörnle: „Opfer haben ein subjektives Recht auf effektive Strafverfolgung“
Tatjana Hörnle, die bei der mündlichen Verhandlung in Karlsruhe als Sachverständige geladen war, sprach sich für die Möglichkeit einer Wiederaufnahme aus. Sie argumentierte, dass das Prozessgrundrecht in Art. 103 Abs. 3 GG, genauso wie auch andere Grundrechte, Eingriffe nicht absolut verbiete. Vielmehr komme es immer auf eine Verhältnismäßigkeitsprüfung an. Das Recht von Freigesprochenen, vom Staat in Ruhe gelassen zu werden, sei wichtig, aber abzuwägen gegen Gemeinwohlinteressen und die Rechte anderer, wozu insbesondere auch die Rechte der Tatopfer und ihrer Angehörigen gehöre. Die Rechte von Opfern und ihren Angehörigen auf effektive Strafverfolgung sind, so betonte Tatjana Hörnle, in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts anerkannt.
Insgesamt sei es unter den sehr engen Voraussetzungen der neuen gesetzlichen Regel (nur bei Mord und Völkerrechtsverbrechen; neue Beweismittel oder Tatsachen ändern die Beweislage grundlegend) angemessen, das Prozessgrundrecht in Art. 103 Abs. 3 GG einzuschränken und ein neues Strafverfahren zuzulassen.
Florian Slogsnat: „Die Regelung ist nicht mit der Unschuldsvermutung vereinbar“
Florian Slogsnat, Strafrechtler und Doktorand in der von Tatjana Hörnle geleiteten Abteilung Strafrecht, rückt hingegen die Rechte des Beschuldigten und Freigesprochenen in den Fokus. Er gehört zu der Gruppe von Kritikern, die die Neuregelung für verfassungswidrig halten, weil sie gegen das Recht des Freigesprochenen, nach dem rechtskräftigen Urteil in Ruhe gelassen zu werden, verstoße. „Ein Freigesprochener muss mit § 362 Nr. 5 StPO trotz des rechtskräftigen Urteils jederzeit mit einer Wiederaufnahme – oder gar einer ganzen Reihe von Wiederaufnahmen – rechnen“, sagt Florian Slogsnat.
Daneben sei die Regelung nicht mit der Unschuldsvermutung vereinbar, weil schon vor dem neuen Verfahren ein Urteil über den Beschuldigten gefällt werde. Es bestehe immer die Gefahr, fälschlicherweise einen Unschuldigen zu treffen, aber im Rechtsstaat würden lieber zehn Schuldige (materiell) zu Unrecht freigesprochen als ein Unschuldiger verurteilt werden. „Würden die Rechte des Beschuldigten im Strafverfahren ernst genommen, könne eine Regelung wie die des § 362 Nr. 5 StPO also keinen Bestand haben“, so Florian Slogsnat.
Mit einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts wird in einigen Monaten gerechnet.