Denken am Wochenende verboten
Ein Meinungsartikel von Ralf Poscher und Andreas Voßkuhle
Der Wissenschaft in Deutschland droht ein Ende, wie es für eine klassische Tragikomödie hätte ersonnen werden können.

Den Stoff für ihren ersten Akt liefert der Erlass der Arbeitszeitrichtlinie der Europäischen Union im Jahr 2003. Die Richtlinie regelt Höchstarbeits- und Ruhezeiten, sieht aber weitreichende Abweichungsmöglichkeiten nicht nur für leitende Arbeitnehmer, sondern auch für Arbeitsverhältnisse vor, „wenn die Arbeitszeit wegen der besonderen Merkmale der ausgeübten Tätigkeit nicht gemessen und/oder nicht im Voraus festgelegt wird oder von den Arbeitnehmern selbst festgelegt werden kann“. In einer Mitteilung bezieht die EU Kommission die Regelung gerade auch auf die Wissenschaft: „Auch könnte die Ausnahmeregelung beispielsweise für bestimme Experten [...] oder Wissenschaftler gelten, die ihre Arbeitszeit weitgehend selbst festlegen.“
Im zweiten Akt betritt der Europäische Gerichtshof (EuGH) die Bühne. Ihm wurde durch ein spanisches Gericht die Frage vorgelegt, ob die Mitgliedstaaten aufgrund der Arbeitszeitrichtlinie die Arbeitgeber verpflichten müssen, für „gewöhnliche Angestellte“ eine Arbeitszeiterfassung bereitzustellen. Das bejahte der EuGH, auch wenn die Richtlinie eine solche Pflicht nicht ausdrücklich vorsieht.
Der dritte Akt gehört dem deutschen Bundesarbeitsgericht (BAG). Es deutet die Entscheidung des EuGH zu „gewöhnlichen Angestellten“ so, dass Arbeitgeber grundsätzlich und nicht nur zur Bereitstellung eines Zeiterfassungssystems, sondern auch zur Gewährleistung seiner Nutzung durch die Arbeitnehmer verpflichtet werden müssen, und legte das deutsche Arbeitsschutzgesetz entsprechend aus, obwohl weder dieses noch das speziellere Arbeitszeitgesetz eine entsprechende Regelung enthält.
Der vierte Akt der Tragikomödie wird dem Vernehmen nach gerade im Bundesarbeitsministerium vorbereitet. Ein Gesetz soll danach eine allgemeine, lückenlose Arbeitszeiterfassungspflicht für alle Arbeitnehmer vorsehen und, entgegen der Auffassung der EU-Kommission, auch die Wissenschaft erfassen. Wissenschaft soll in Deutschland in Zukunft nur noch unter dem Diktat der Stechuhr möglich sein.
Deutschland macht sich zum Gespött
Die Reihe der unionsrechtlichen Missverständnisse mündet schließlich in den Schlussakt, in die Umsetzung des Gesetzes durch Wissenschafts-, Hochschul- und Forschungsverwaltungen und damit direkt ins wissenschaftliche Absurdistan. Wissenschaftlerinnen muss nach acht Stunden der Zugang zu Laboren, Datenbanken, Bibliotheken und ihrem Büro verwehrt werden. Habilitandinnen und Doktoranden müssen die Fachlektüre am Abend und das Denken an Wochenenden einstellen. Ja, Universitäten und Forschungseinrichtungen müssten sie ihnen sogar verbieten, sie bei Verstößen abmahnen und ihnen bei Wiederholungsfällen in letzter Konsequenz wegen ihres Forschungsdrangs kündigen.
Die Folgen sind absehbar: Der Wissenschaftsstandort Deutschland macht sich zum Gespött der internationalen Wissenschaftsgemeinschaft. Die hellsten Köpfe verlassen die deutschen Hochschulen und Forschungseinrichtungen oder werden sie in Zukunft meiden. Internationale Talente machen einen großen Bogen um den Forschungsstandort Deutschland. Denen, die doch noch bleiben, werden gegenüber der internationalen Konkurrenz die Hände auf dem Rücken gebunden. Die Bürokratisierung der Forschung erringt ihren letzten Sieg: Gulliver liegt nun gefesselt am Boden.
Schöne Grüße aus Liliput
Das sinnentleert nicht nur die Wissenschaft, sondern entwertet auch die für gelingende Forschung unentbehrlichen und teils großartigen Leistungen der Wissenschaftsverwaltungen, die auch unter schwierigen finanziellen, räumlichen und personellen Bedingungen immer wieder Forschungsfreiräume ermöglichen, ohne die Spitzenleistungen nicht denkbar sind. Die rechtspolitischen Argumente gegen die Aufführung der beiden letzten Akte der Tragödie sind so offensichtlich, dass man sich bei bestem Willen nicht erklären kann, warum im Bundesarbeitsministerium ein Arbeitszeiterfassungsgesetz in Vorbereitung ist, das sich gegenüber den Eigengesetzlichkeiten der Wissenschaft so unsensibel zeigt und entgegen den Vorstellungen der EU-Kommission und entgegen dem Drängen von Wissenschaftsorganisationen keine entsprechende Bereichsausnahme vorsehen soll. Sind wir doch in Liliput gelandet?
Nicht nur der gesunde Menschenverstand und die forschungspolitische Vernunft sprechen gegen die arbeitsrechtliche Gleichbehandlung von Wissenschaftlern und Bankangestellten. Auch verfassungsrechtlich könnte ein Gesetz ohne Bereichsausnahme keinen Bestand haben. Das Grundgesetz (Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG) und die Grundrechtscharta der Europäischen Union (Art. 13 GrCh) schützen nicht nur Religion, Presse, Rundfunk und Kunst durch eigene Garantien, sondern auch die Freiheit von Wissenschaft und Lehre.
Abwägung von Schutz und Freiheit
Entsprechend betont auch der EuGH in seiner Entscheidung, dass die Arbeitszeitrichtlinie gerade unter Berücksichtigung der Grundrechte der Charta auszulegen ist. Zu diesen gehört aber nicht nur der Arbeitszeitschutz, sondern auch die Wissenschaftsfreiheit. Wissenschaftliche Arbeitsverhältnisse gelten nicht nur der Erfüllung von Arbeitspflichten, vor deren Übermaß Arbeitnehmer des Schutzes bedürfen, sondern sie bieten gleichzeitig den Raum für die Ausübung individueller Wissenschaftsfreiheit der Wissenschaftlerinnen. Diese Ausübung deckt sich weitgehend mit der Erfüllung der Arbeitspflichten aus dem Arbeitsvertrag, sie kann aber auch darüber hinausgehen. Diesen verfassungsrechtlich geschützten Besonderheiten der wissenschaftlichen Arbeitsverhältnisse muss das einfache Recht Rechnung tragen.
Dies gilt auch, soweit die Wissenschaft in öffentlichen Hochschulen oder Forschungseinrichtungen durch den Staat organisiert wird. Die Wissenschaftsfreiheit des Grundgesetzes eröffnet dem Gesetzgeber zwar Ausgestaltungsspielräume, soweit seine Regelungen das wissenschaftsinterne Ziel verfolgen, die Strukturen zur Ermöglichung von Wissenschaft an öffentlichen Einrichtungen festzulegen. Doch diese Ausgestaltungsspielräume beziehen sich lediglich auf die wissenschaftliche Selbstverwaltung, die Zuteilung staatlicher Mittel oder die Auflegung von Förderprogrammen.
Gesetzliche Maßnahmen, die wissenschaftsexternen Zielen, wie etwa dem Tier- oder Arbeitsschutz, dienen, gestalten Wissenschaftsfreiheit nicht aus, sondern greifen in die Freiheit der Wissenschaftlerinnen ein. Sie unterliegen den strengeren Anforderungen an staatliche Grundrechtsbeschränkungen. Eingriffe in die Wissenschaftsfreiheit sind nur zulässig, soweit sie dem Schutz eines anderen Verfassungsguts dienen oder durch einen verfassungsrechtlichen Schutzauftrag gefordert werden. Insbesondere müssten sie mit Blick auf das andere verfassungsrechtliche Schutzgut verhältnismäßig, das heißt geeignet, erforderlich und angemessen sein. Das ist vorliegend offensichtlich nicht der Fall.
Die Arbeitszeiterfassung soll mittelbar dem Schutz der Gesundheit der Arbeitnehmer dienen. Diese sollen nicht mehr arbeiten müssen, als gesetzlich erlaubt ist. Da Gesundheit unzweifelhaft ein verfassungsrechtlich geschütztes Gut darstellt (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG), wäre diese Anforderung an einen Eingriff in die Wissenschaftsfreiheit erfüllt. Verfassungsrechtliche Zweifel ergeben sich aber bereits bei der Frage, ob die Regelung geeignet ist, mithin einen Beitrag zur Zweckerreichung liefert. Dazu müsste die Arbeitszeit sinnvoll erfasst werden können. Das ist aufgrund der Besonderheiten wissenschaftlicher Arbeitsverhältnisse, die immer auch der Verwirklichung individueller Wissenschaftsfreiheit und nicht nur der Erfüllung vertraglicher Arbeitspflichten dienen, nicht erkennbar.
Wissenschaft und wissenschaftliche Leistungen beruhen auf der intrinsischen Motivation der Wissenschaftlerinnen sowie geistiger Kreativität, Erfindungsreichtum, methodischer Beharrlichkeit und Hartnäckigkeit bei der Erweiterung und Systematisierung unseres Weltwissens. Kreativität und Erfindungsreichtum orientieren sich dabei nicht an festen Arbeitszeiten, sondern beruhen auf unvorhersehbaren mentalen Prozessen, die nur eingeschränkt gesteuert werden können. Phasen vergeblicher Anläufe und geringer Produktivität wechseln sich vielmehr ab mit Phasen hoher Produktivität und Schaffenskraft. Viele Aktivitäten von Wissenschaftlerinnen lassen sich dementsprechend durch Stechuhren und andere Zeitdokumentationsinstrumente nicht erfassen: die Arbeit am häuslichen Schreibtisch, die immer wieder unterbrochen wird durch kreativitätsfördernde Tätigkeiten wie Spazierengehen, Bügeln oder Rosenschneiden; die nächtliche Lektüre einer spannenden Studie; auch der intensive wissenschaftliche Austausch mit Kollegen im Anschluss an eine Tagung in der Hotelbar und so weiter.
Vertrauensarbeitszeit wird der Wissenschaft gerecht
Eine nicht geeignete Regelung kann auch schwerlich erforderlich sein, zumal es gute Erfahrungen mit milderen Mitteln zum Schutz der Gesundheit junger Wissenschaftlerinnen gibt. So einigt man sich beispielsweise bei Doktorandinnen – soweit sie nicht ohnehin auf der Basis von Stipendien außerhalb von Arbeitsverhältnissen promovieren – zumeist auf Vertrauensarbeitszeiten. Sie ermöglichen ihnen eine weitgehende Freiheit bei der Einteilung ihrer Arbeitszeiten und häufig auch der Wahl des Arbeitsorts, wobei ihnen zudem häufig auch die Auswahl der Forschungsgegenstände und Methoden freisteht. Damit werden die Vertrauensarbeitszeiten dem besonderen Charakter wissenschaftlicher Arbeitsverhältnisse gerecht. Sie gewährleisten den für gelingende Forschung nötigen Freiraum für die Ausübung der individuellen Wissenschaftsfreiheit im Arbeitsverhältnis.
Schließlich wäre eine ähnlich feingliederige Regulierung der Arbeitszeiten, wie sie überwiegend für sonstige Arbeitnehmer gelten, im Hinblick auf die Eigengesetzlichkeiten der Wissenschaft auch unverhältnismäßig im engeren Sinn. Sie würde die Notwendigkeit eines schonenden Ausgleichs der verfassungsrechtlichen Belange des Gesundheitsschutzes mit denen der Freiheit der Wissenschaft verfehlen und wäre auch aus diesem Grund verfassungswidrig und nichtig.
Wissenschaft lebt von nur beschränkt planbaren kreativen Prozessen, die das gesamte Leben einer Wissenschaftlerin nachhaltig prägen. Wissenschaftler sind deshalb irgendwie immer im Dienst; das ist ihr Schicksal. Kein Wissenschaftler würde sagen: „Mir kommt gerade eine gute Idee, die muss aber warten, jetzt habe ich frei.“ Deshalb ist auch die Rolle der Arbeitgeberin eine andere als in den meisten Berufen. Ihre Fürsorgepflicht geht dahin, darauf zu achten, dass sich besonders auch junge Wissenschaftler ausreichend selbst schützen und die Vertrauensarbeitszeit nicht so überstrapazieren, dass gesundheitliche Risiken drohen.
Diese Fürsorge drückt sich nicht zuletzt auch in dem persönlichen Betreuungsverhältnis aus, das zwischen erfahreneren Wissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftlern besteht. Dem Betreuungsverhältnis liegen heute überwiegend formelle Betreuungsvereinbarungen zugrunde, die regelmäßig Betreuungsgespräche, ihre Dokumentation und oft auch die Beteiligung ganzer Betreuungsteams vorsehen. Daneben stellen alle Wissenschaftsorganisationen eine Fülle von Fortbildungs-, Coaching- und psychologischen Beratungsangeboten zur Verfügung, mit deren Hilfe sich gerade auch das selbständige Arbeitsmanagement lernen lässt.
Die Balance zwischen dem eigenen Forschungsstreben und den eigenen Kräften zu finden ist für alle Wissenschaftler eine lebenslange Aufgabe. Viele Faktoren spielen eine Rolle, der Schwierigkeitsgrad der Projekte, ihre Anzahl und Planung, die Effizienz der Methodik und das Zeitmanagement. Es kann nicht die Rede davon sein, dass die Pflege der Gesundheit vernachlässigt würde. Die Freiheiten bei der Arbeitszeitgestaltung in den Vertrauensarbeitsverhältnissen dienen nur dazu, bereits Nachwuchswissenschaftlerinnen an die besonderen Herausforderungen der Eigenverantwortlichkeit und Selbstorganisation heranzuführen, die den Kern wissenschaftlicher Freiheit ausmacht. Eine Arbeitszeiterfassungspflicht zerstört diese Freiheit.
Ralf Poscher ist Direktor am Max-Planck-Institut zur Erforschung von Kriminalität, Sicherheit und Recht in Freiburg, wo er die Abteilung Öffentliches Recht leitet. Andreas Voßkuhle war Präsident des Bundesverfassungsgerichts und ist Direktor des Instituts für Staatswissenschaft und Rechtsphilosophie an der Universität Freiburg.