Lügde, Bergisch Gladbach, Münster – die Serie von Kindesmissbrauchsfällen scheint nicht abzureißen. Die Forderungen nach härteren Strafen für die Täter werden immer lauter, das Bundesjustizministerium hat Anfang Juli erste Reformvorschläge vorgelegt. Doch welche Wirkung könnten schärfere Gesetze haben? Tatjana Hörnle, Direktorin am Max-Planck-Institut zur Erforschung von Kriminalität, Sicherheit und Recht ist da skeptisch. Die Juristin befasst sich seit Jahren mit dem Thema Missbrauch.
Die Befürworter schärferer Gesetze fordern, dass Kindesmissbrauch als Verbrechen mit mindestens einem Jahr Freiheitsstrafe geahndet werden sollte. Ist das bisher nicht so?
Tatjana Hörnle: Die meisten Fälle, die in letzter Zeit in den Medien bekannt geworden sind, wie die von Münster oder Lüdge, sind eindeutig Fälle von schwerem sexuellem Missbrauch. Das Strafgesetzbuch sieht dafür schon jetzt zwischen zwei und 15 Jahren Freiheitsstrafe vor. Damit sind solche Taten ganz klar als Verbrechen eingeordnet. Das Gesetz umfasst aber auch weniger schwere Fälle, zum Beispiel, wenn eine flüchtige körperliche Berührung im Grenzbereich von „sexuell“ und „harmlos“ lag. Insgesamt ist der Rahmen sehr weit gesteckt, das entspricht den sehr unterschiedlichen Formen des Unrechts und ist ein überzeugender Strafrahmen, der keiner Änderung bedarf.
Sie halten also nichts von höheren Mindeststrafen?
Mir ist bewusst, dass einige Menschen es als Verharmlosung empfinden, wenn bei Sexualdelikten gegen Kinder zwischen schweren und weniger schweren Taten differenziert wird. Aber gerade die extremen Fälle, die in letzter Zeit bekannt geworden sind, machen deutlich: Es muss die Möglichkeit geben, verschiedene Grade von Unrecht mit verschieden harten Strafen zu belegen. Und gerade für solche Fälle, in denen die Täter besonders brutal vorgegangen sind und in denen es viele Opfer gibt, ist die Untergrenze nicht von Bedeutung. Die Frage ist daher, was man bewirken möchte. Wenn es darum geht, Täter abzuschrecken, wäre es wichtiger, das Entdeckungsrisiko zu erhöhen. Wenn es um die moralische Verurteilung sexueller Gewalt gegen Kinder geht, wird jetzt deutlich, dass es darüber einen ungewöhnlich breiten Konsens in der Gesellschaft gibt. Durch die Erhöhung der Mindeststrafen schafft der Gesetzgeber eher neue Probleme.
Inwiefern?
Es gibt im Gesetz eine starre Altersgrenze bei 14 Jahren; bis zu diesem Alter ist jegliche sexuelle Handlung verboten. Aus Umfragen unter 12- und 13-Jährigen wissen wir, dass viele schon erste sexuelle Kontakte mit Gleichaltrigen haben. Nach dem Gesetz ist aber ein Zungenkuss, den ein 15-Jähriger seiner 13 -jährigen Freundin gibt, für ihn strafbar. In Österreich und der Schweiz gibt es für solche Fälle bereits eine Ausnahmeregelung. Positiv am aktuellen Reformvorhaben des Bundesjustizministeriums ist, dass im deutschen Strafrecht eine ähnliche Lösung eingeführt werden soll. Aber es gibt auch in anderen Konstellationen leichte Fälle, etwa die eben schon erwähnten einmaligen Berührungen, die nur knapp über der Schwelle dessen liegen, was als „sexuell“ gelten muss – zum Beispiel eine kurze Berührung der Genitalregion, wenn das Kind Kleidung trägt. Gesetzliche Strafrahmen sollten so beschaffen sein, dass auch atypisch leichte Fälle angemessen bestraft werden können.
Im Zusammenhang mit Kinderpornografie will die Bundesjustizministerin die Mindeststrafe ebenfalls erhöhen. Wie beurteilen Sie das?
Recht ähnlich. Auch hier gibt es ein Kontinuum von Fällen: das reicht von Jugendlichen, die einmal ein Tabu brechen wollen und sich beim Anblick solcher Bilder gruseln, bis zu Tätern, die große Mengen von Abbildungen mit massivem sexuellem Missbrauch verbreiten. Auch hier ist der Strafrahmen so angelegt, dass er den Unterschieden Rechnung trägt. Wenn sexuelle Handlungen an Kindern gefilmt und übers internet verbreitet werden, sind die Strafen für die Täter des Missbrauchs bereits sehr hoch. Schon die Absicht, Bilder der Tat zu verbreiten, kann eine Freiheitsstrafe von zwei bis 15 Jahren nach sich ziehen. Davon unterscheiden muss man Fälle, bei denen Täter ohne Beteiligung am Missbrauchsgeschehen vorhandene, im Netz gefundene Bilder weiterverbreiten. Da reicht das Strafmaß derzeit nur bis fünf Jahre, vorgeschlagen ist jetzt, die Obergrenze auf zehn Jahre zu erhöhen. Das ist vertretbar, da das Unrecht unter bestimmten Umständen erheblich sein kann, nämlich wenn Einzeltäter viele extreme Abbildungen an zahlreiche Empfänger weitergeben. Kritisch zu sehen ist jedoch die geplante Heraufsetzung der Mindeststrafe insbesondere beim Besitz. Auch da kann es Bagatelltaten geben, etwa das Betrachten eines einzigen Bildes für kurze Zeit, die die Einordnung als Verbrechen nicht verdienen.
Warum dann die Forderungen?
Die Fälle von Münster und Lüdge haben die Öffentlichkeit sehr aufgewühlt. Es gibt einen breiten Konsens über alle politischen, kulturellen und sozialen Trennlinien hinweg, dass Kindesmissbrauch bekämpft werden muss. Und gerade in unserer Mediengesellschaft wird die Empörung besonders spürbar. Die Politik gerät massiv unter Druck, schnell zu handeln. Das einfachste Mittel ist, den Strafrahmen zu ändern. Letztlich ist das ein Zeichen von Hilflosigkeit. Denn auf Gerichtsurteile haben Regierung und Bundestag keinen Einfluss. Und effektivere Ermittlungsmaßnahmen werden im Moment dadurch behindert, dass die Vorratsdatenspeicherung auf Eis liegt.
Was würde eine solche Speicherung bringen?
Wenn aufmerksame Bürger oder Kinderschutzorganisationen der Polizei kinderpornografische inhalte melden, können die Ermittler die Veröffentlichungen nicht bestimmten Computern oder Personen zuordnen – selbst wenn die Inhalte von deutschen IP-Adressen aus ins Netz gestellt wurden. Denn die IP-Adressen sind häufig dynamisch, und nur wenn die Internetanbieter die Adressen mit den zugehörigen Nutzerdaten für einen bestimmten Zeitraum speichern würden, könnte man die Täter ausfindig machen. Das Bundeskriminalamt hat für 2019 Zahlen veröffentlicht, wonach sich in 2100 Fällen von Kinderpornografie die Person hinter der IP-Adresse nicht ermitteln ließ.
Woran hängt die Vorratsdatenspeicherung im Moment?
Derzeit steht eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs aus. Es geht um die Klage von Providern und die Frage, ob das deutsche Gesetz von 2015 gegen europäische Datenschutzvorgaben verstößt. Neben Telekommunikationsunternehmen monieren auch Datenschützer und Netzaktivisten die Regelung. Die Frage ist sicher berechtigt, ob und unter welchen Bedingungen wir die Speicherung unserer Daten akzeptieren – vor allem anlasslos. Wünschenswert wäre ein vernünftiger Kompromiss, der den Zugang zu gespeicherten Daten kontrolliert und reguliert, ohne die Arbeit von Strafverfolgungsbehörden zu blockieren.
Das Interview ist erstmals in der MAX PLANCK Forschung, dem Wissenschaftsmagazin der Max-Planck-Gesellschaft, erschienen. Die Fragen stellte Mechthild Zimmermann.